Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
reagierten schließlich beleidigt auf das Wahlergebnis und sprachen von dem häßlichen Gesicht des Ostens.
    Zu Hause war Michaela nicht vom Fernseher wegzubekommen. In eine Decke gehüllt, wandte sie nicht mal den Kopf, wenn sie mit uns sprach. Bei jeder winzigen Veränderung rief sie uns herbei und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Bildschirm.
    Michaela hatte Robert Fondue versprochen, alles war vorbereitet, die Platten im Kühlschrank, die Brühe im Topf. Aber selbst als alles auf dem Tisch stand und wir schon die Spieße in den Topf steckten, blieb sie zusammengekauert vor dem Fernseher hocken. Robert war den Tränen nah. Zweimal bat ich sie, sie möge kommen, sie wisse doch nun, wie es ausgegangen sei.
    Was
ich
denn eigentlich zu diesem Desaster zu sagen hätte? Ich tue so, als ginge mich das alles nichts an, als hätte unsere Provinzpostille nicht auch ihren Anteil an der Katastrophe. Ich sagte, daß es wenige Dinge gebe, die mich von einem Fondue abhalten könnten. Du weißt, wie ich das meinte. Michaela versteinerte.
    Nichts, nichts habe noch einen Sinn, wenn die Leute so krank und debil wählten. Sie könne hier nicht mehr atmen, könne kaum noch jemandem ins Gesicht sehen, und ich sei genauso bescheuert wie alle anderen.
    Wie von der Bühne herab fragte sie mich plötzlich: Wer bist du, wer bist du eigentlich? Ich mußte lachen, nicht über ihre Frage, sondern über das, was mir sofort durch den Kopf schoß: Ein Suchender, sagte ich. Und was suchte ich? Das richtige Leben, sagte ich und war selbst überrascht von der Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit der mir das über die Lippen kam. Wundersamerweise setzte sie sich dann doch zu uns an den Tisch.
    Ach, Jo, was soll ich denn machen? Ich würde ihr so gern helfen. Aber sie will die Wahrheit einfach nicht hören, jedenfalls nicht von mir.
    Als ich heute vom Mittagessen kam – der Galluswirt hatte »geflaggt«, das heißt, er hatte zur Feier des Wahlsieges weiße gestärkte Tischdecken aufgelegt –, saß Piatkowski, der hiesige stellvertretende CDU -Vorsitzende, am Tisch und lutschte Drops, um seine Fahne zu mildern. Und mit wem unterhielt er sich? Mit Barrista!
    Als Piatkowski mich sah, schlug er eine dunkelrote Urkundenmappe auf und reichte mir ein A4-Blatt, auf dem sich der CDU -Kreisverband Altenburg »tief bewegt« bei den Wählerinnen und Wählern bedankte. Ich sagte, daß wir nichts mehr annehmen könnten, nichts mehr für diese Woche.
    »Oder Sie zahlen Expreßzuschlag«, sagte der Baron. So habe er es neulich gemacht. Für das Doppelte bekomme er sicher noch eine halbe Seite. Piatkowskis feuchte Lippen begannen zu beben. Was denn für hundertfünfzig Mark möglich sei. Knapp vierzig hoch und eine Spalte breit. Piatkowski zog, während er nachsann, die schwarz-rot-goldene Kordel seiner Mappe straff, willigte schließlich ein, verzichtete mit einem Seufzer auf sein neues CDU -Symbol (das »ex oriente pax« gilt offenbar nicht mehr) und wählte einen dicken Rahmen wie für Traueranzeigen. Der Text wird nur mit der Lupe zu lesen sein. Ich quittierte, das Geld bar erhalten zu haben.
    Als Piatkowski draußen war, fragte ich den Baron, ob er wisse, mit wem er eben gesprochen habe. Piatkowski hat im Oktober, am Tag nach der ersten Demonstration in Altenburg, an dem Michaela und ein paar andere vom SED -Kreissekretär ins Rathaus geladen worden waren, auf der anderen Seite des Tisches neben dem SED -Chef gesessen und unverhohlen gedroht, daß all jene, die den Dialog blockierten, nicht mit Milderechnen dürften – wofür er sogar vom Kreissekretär gerügt worden war. Der hatte sich nämlich »tief bewegt« von der Demonstration gezeigt.
    Der Baron zuckte mit den Schultern. Worüber ich mich denn aufrege? Etwa über den armen Schlucker, der da gerade zur Tür hinausgehuscht sei? Piatkowski, sagte ich, sei der letzte, der Mitleid verdiene. Ich solle doch einmal überlegen, was ich da sage. Dieser Mensch werde die Kommunalwahlen nicht mehr in seinem Parteiamt erleben, das wisse dieser Piatsoundso selbst am besten. Seine Arbeit werde er aus demselben Grund verlieren. Ob ich wisse, warum Piatsoundso in die CDU gegangen sei? Um die Drogerie seiner Eltern zu retten, weil man ihm gesagt hatte, entweder SED oder der Laden. Und da habe er Zuflucht zur CDU genommen, um das Geschäft wenigstens so lange über Wasser zu halten, wie sein Vater am Leben war. 109 Dann habe man ihm den Posten in der Verwaltung angeboten, in der Kämmerei, wie der Baron die Abteilung

Weitere Kostenlose Bücher