Neue Leben: Roman (German Edition)
zur oberen Kante meines Tagebuchs ab. Es war, als hätte ich seit Jahren jeden Arbeitstag mit dieser Geste beendet.
Plötzlich verstand ich: Sosehr ich als Person, als Gottes Geschöpf versagt hatte, so sehr eignete ich mich zur literarischen Gestalt. Und das war die eigentliche Erkenntnis: Nicht Tagebuch sollte ich schreiben, sondern ein Werk, eines, das wie kein anderes Gottes Wirken verherrlichen sollte.
Ich schlich mich ins Wohnzimmer, in dem der Duft des Westkaffees und der Fa-Seife mit den einheimischen Gerüchen rang, und entnahm einer Schublade den Briefpapierblock meiner Mutter. Ich schlug ihn auf, legte das Linienpapier zurecht, nahm den Füller, steckte die Kappe hinten auf und schrieb, ohne zu zögern, oben in die Mitte: Geburt, darunter: eine Erzählung von – neue Zeile: Enrico Türmer. Und ging befriedigt, als hätte ich mein Opus soeben vollendet, ins Bett.
In der Morgendämmerung saß ich, einen Pullover über dem Schlafanzug, wieder am Schreibtisch. Ich sehnte mich danach, in ausgreifenden Ober- und Unterschwüngen, die wie von selbst lange Sätze formten, mein Versagen zu schildern. Doch da es sich um eine Erzählung handelte, mußte erst einmal das Terrain und die dazugehörigen Personen beschrieben werden, so daß nach meinem ersten Satz, der »Es klingelte« lautete, die Handlung für längere Zeit abbrach.
Die Vorstellung, mein Werk an den beiden Weihnachtsfeiertagen, dann zumindest noch im selben Jahr, schließlich bis zum Ende der Weihnachtsferien zum Abschluß zu bringen, erwies sich als trügerisch.
Ich empfand durchaus das Zwiespältige der Situation, Hendrikvormittags zu begegnen und nachmittags über ihn zu schreiben. Wie erwartet, hatte er alle Hemmungen verloren und steuerte mich ohne Umwege an. Morgens saß er sogar auf meinem Stuhl, was soviel hieß wie: Ich habe auf dich gewartet. Es war kaum möglich, ohne ihn an meiner Seite mit jemand anderem zu reden. Stolperte er über ein Bein, fand er seine Schuhe nicht, oder sah er an der Tafel Zeichnungen – Ferkeleien, wie die Lehrer sagten – mit seinem Namen, straffte er nur seine Haltung und lächelte mit schiefgelegtem Kopf, was heißen sollte: Ich halte euch auch noch die andere Wange hin. Wenigstens hatte ich ihn überreden können, den obersten Knopf seines Hemdes zu öffnen. Ich ertrug auch Hendriks Geschwätz über positive und negative Energien im Weltraum, denn von wem, wenn nicht von Hendrik, konnte ich erfahren, wie es sich anfühlte, wenn der Heilige Geist von einem Besitz ergriff, je detaillierter, um so besser.
In den Winterferien, Hendrik und ich waren auf dem Weg in die »Junge Gemeinde«, unterbrach ich ihn mitten in seiner Theorie der Weltentstehung. Hendrik verstand nicht, was ich meinte. Ich wurde ungehalten. Mußte ich denn ausdrücklich fragen, ob er eine Stimme gehört und was diese gesagt hatte?
Der christliche Glaube, so Hendrik endlich, bringe Ordnung ins Leben. Und außerdem – dabei erschien sein »Die-andere-Wange-hinhalten-Lächeln« – könne es keinesfalls verkehrt sein zu glauben. Wenn es nicht stimmte, so Hendrik, würde man das sowieso nicht mehr merken.
Ich prallte zurück! Ich wollte diese Fratze ohrfeigen, ihn einen gottverdammten Betrüger nennen, ihn allen Qualen überantworten, deren die Hölle einer Schulklasse fähig ist! »Der Teufel ist ein Logiker« – das fand ich später irgendwo bei Heine.
»Hendrik hat mir den Füller aus der Hand geschlagen«, blieb über Monate hinweg die letzte Eintragung in meinem Tagebuch.
Diesem Leiden gab ich mich noch im August in Waldau hin, wo ich nichts anderes tat, als jene acht Bücher mit grau marmorierten Einbänden zu lesen, auf deren Rücken, Gold auf Blau, das Mantra Herrmann Hesse gedruckt war, ebenfalls ein Geschenk von Tante Camilla, das mich ohne Vorankündigung erreicht hatte. Zwischen den Seiten verbarg sich ein Duft, der besser und feiner war als jener des Intershops. Dieser Duft gehörte zu den Lesestunden, er war mein Weihrauch, der sich nur langsam mit der Waldluft und dem Geruch des Waldauer Häuschens mischte. Doch das bemerkte ich erst zu Hause.
Ganz der Ihre, Enrico
Mittwoch, 21. 3. 90
Lieber Jo!
Gestern habe ich den Stadtspaziergang mit dem Baron nachgeholt, das Wetter war danach. An den Roten Spitzen vorbei gingen wir zum Großen Teich und dort ein Stück entlang der Hutfabrik. Ich empfahl ihm einen Spaziergang mit Georg, der könnte ihm alles über Barbarossa und den Prinzenraub erzählen, über
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