Neue Leben: Roman (German Edition)
hochgestimmte und freudige Ton der Ferientage zu einer mitunter bigotten Selbstanklage verkommen. Denn täglich versagte ich in dem Bemühen, Gottes Gebote zu halten. Tagebuch führen hieß ja, Rechenschaft abzulegen. Die Nachwelt sollte erfahren, was ihr berühmter Dichter als junger Mensch gefühlt, gedacht und getan und welch hohe Maßstäbe er dabei an sich gelegt hatte.
Das, was ich Ihnen nun schildern will, steht nicht im Tagebuch. Ich werde mich möglichst kurz fassen.
Nach dem Arkadiensommer erschien mir meine Klasse, wir waren jetzt in der achten, als kindischer Haufen. Niemand, mit dem ich über meine ungeheuerlichen Erfahrungen hätte reden können, nichts, was mich an den Erkundungen der anderen in Diskotheken, Garagen und Kellern gereizt hätte. Das muß Hendrik gespürt, das muß ihn ermutigt haben.
Hendrik, der aufgrund eines Sprachfehlers und erschreckender Magerkeit seit der ersten Klasse das bevorzugte Objekt von Quälereien gewesen war und den ich immer mal wieder ohneviel Anteilnahme verteidigt hatte, stolzierte wie ein Rabe um mich herum, winkelte mal den rechten, mal den linken Arm derart spitz an, als kratzte er sich in der Achselhöhle, hielt sein Vogelköpfchen schief und sprang dann mit einer Art Hopser näher, um mir eine Frage zu stellen. Mal wollte er wissen, ob ich am Wochenende einen Ausflug unternommen hätte, mal, ob wir einen Plattenspieler besäßen und ähnliches mehr. Ich gab ihm jedesmal Auskunft, woraufhin er maliziös lächelte und sich wortlos davonstahl, offenbar in dem Gefühl, sich gut unterhalten zu haben.
Es muß schon im November gewesen sein, in den Pausen gingen wir nicht mehr auf den Hof, als er mir etwas über Wesen von höherer Intelligenz zuflüsterte. Das war deshalb überraschend, weil seine Mutter bei der Polizei arbeitete und sein Vater, ein strenger und sparsamer Mann, in der Schule Hausmeister war.
Von nun an raunte mir Hendrik Tag für Tag einen neuen endgültigen Beweis für unsere Abstammung von Außerirdischen zu und teilte mir seine Theorie über die Energieform mit, die er als den Antriebsstoff der außerirdischen Raumschiffe vermutete. Dabei wand er seine Arme und Hände umeinander, als versuchte er, sich selbst zu fesseln. Kurz vor Weihnachten fragte mich Hendrik, ob ich nun an seine Theorie glaubte. Zum ersten Mal klang er ungehalten. »Nein«, sagte ich. »Ich glaube an Jesus Christus.«
Dieser Satz, erstmalig von mir ausgesprochen, erschütterte mich selbst. Als hätte eine Stimme aus den Wolken während eines Fahnenappells verkündet: »Enrico, du bist mein lieber Sohn, an dem ich Freude habe!« Ich brauchte das ganze Wochenende, um diese Szene im Tagebuch festzuhalten.
Am Vormittag des 24. Dezember stand Hendrik vor unserer Tür und trat, ohne eine Aufforderung abzuwarten, mit seinen Rabenschritten ein. Er müsse mich dringend sprechen. Als hätteihn tatsächlich seine Mutter angezogen, wie immer behauptet wurde, war zwischen Mütze und Schal kaum etwas von seinem Gesicht zu sehen. Er bewundere meine Glaubensstärke, möchte gern auf dieselbe Art glauben können wie ich und bitte mich um Hilfe. Das verkündete er im Flur. Die Flachzange in meiner Hand schien ihn nicht weiter zu irritieren. Meine Mutter – wir waren gerade dabei, die Sehnen aus den Putenschenkeln zu ziehen – bat Hendrik abzulegen und gab mich frei.
Ich könne da nicht viel tun, das müsse er schon selber machen, sagte ich, bot ihm aber an, gemeinsam die Bibel zu lesen, irgendwas aus dem Neuen Testament, und zu beten. Mit der Gehorsamkeit eines Kranken schlug er die Bibel auf – sein Blick fiel auf jene Stelle, da Jesus die Kinder zu sich kommen läßt. Ob ich das für ein Wunder halte, fragte er. Alles sei Fingerzeig Gottes, antwortete ich. Wir lasen das Kapitel, dann betete erst ich halblaut, dann er. Plötzlich öffnete ich die Augen, wie um mich zu vergewissern, ob wir tatsächlich taten, was wir taten. Mein Blick fiel auf die halbhohen Arbeitsschuhe, die Hendrik, da er unglücklicherweise die Schuhgröße seines Vaters erreicht hatte, neuerdings trug. Wie Gewichte hingen sie an ihm und machten seinen ohnehin schon gravitätischen Gang vollends zur Zirkusnummer. Obwohl er selbst darüber seufzte und zu lächeln versuchte, war seither keine Sportstunde vergangen, in der die alten Schuhe nicht durch die Umkleidekabine gebolzt worden wären.
Ich hatte es meinem Einfluß zugeschrieben, daß nach der letzten Sportstunde vor den Ferien seine Unglücksschuhe an ihrem
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