Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
ein rätselhafter Blitz treffen oder eine lebenswichtige Nachricht. Kämen wir ihm zu nah, würde er verschwinden.
    Wie sehr verfehlte doch Frau Nádoris Etikett »Devisenhotel« das Wunder dieses Goldglasturmes. Was wir anstarrten, gehörte nicht mehr zu dieser Welt, stand aber auf ihrem Boden. Ein Ufo, das unerhörterweise im Diesseits gelandet und zugleich zum krönenden Schlußstein unserer Welt geworden war.
    Nie werde ich das Lächeln meiner Mutter vergessen, mit dem sie das »Hilton« betrat, ihren Wink, der mich folgen ließ. Unbehelligtvon Polizei und Staatssicherheit gelangten wir hinein – und zwar so, wie wir waren.
    Sie müssen wissen, daß ich bis dahin noch nie ein Hotel, auch kein viertklassiges, von innen gesehen hatte. In Straßenschuhen liefen wir über Teppiche – niemand störte sich daran. Ich hörte westliches Deutsch und Englisch und eine weitere Sprache, wahrscheinlich Italienisch. Dazu kam unergründbares Licht, weder hell noch dunkel, und Ruhe, obwohl die Leute hier lauter sprachen als auf der Straße. Vor allem ältere Ehepaare fläzten sich in Ledersessel, wie ich es nie zuvor in der Öffentlichkeit gesehen hatte. Einige hatten sogar Hocker herangezogen und legten die ausgestreckten Beine darauf. Niemand forderte die Westler auf, die Schuhe auszuziehen. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich einen der Uniformierten Koffer und Taschen auf ein vergoldetes Wägelchen hieven und zum Fahrstuhl schieben sah. Gehörten sie nicht zur Polizei? Waren sie etwa Diener, in Wirklichkeit existierende Diener, die den Westlern ihre Koffer trugen? Der Eingang in die Unterwelt hätte mich nicht in größeres Staunen versetzen können als dieses Schlupfloch ins Jenseits.
    Meine Mutter, die sich wohl von der Realität dieser Spezies überzeugen wollte, fragte einen mageren, hoch aufgeschossenen Uniformierten, wo man hier Kaffee trinken könne. Mit der flachen Hand wies der viel zu kurz Geschorene – waren es vielleicht Soldaten? – nach links, umrundete uns mit schnellen Schritten und wiederholte seine Geste. Meine Mutter dankte laut und auf deutsch. Gerade Deutsch, hatte sie uns eingeschärft, solle man im Ausland nicht zu laut sprechen.
    Diese hohen, ungemütlichen Hocker kannte ich aus einer Dresdner Milchbar. Ich war ebenso enttäuscht wie erleichtert, etwas zu sehen, wofür es Vergleiche gab.
    Meine Mutter schloß ihre Handtasche und schob sie auf die Theke. In ihrer Rechten knisterte die »Duett«-Packung, zwischenZeigefinger und Mittelfinger der Linken steckte die Zigarette, Ringfinger und kleiner Finger hielten einen braunen D-Mark-Schein an den Handballen gedrückt.
    Damit die Streichholzschachtel uns nicht verriet, bat sie die Bardame um Feuer. Diesmal hatte meine Mutter zu leise gesprochen. Ich mußte ihr helfen, ich mußte sie beschützen. Mehrmals prüfte ich die Frage, bevor ich sie laut zu stellen wagte. »Do you have matches, please?« wiederholte ich und errötete. Ich zweifelte weniger an der Richtigkeit der Frage als daran, daß sie außerhalb der Schule verstanden würde.
    Die Streichholzschachtel glänzte nicht nur weiß, sie war auch mit einer goldenen Schnörkelschrift verziert und lag auf einer weißen Porzellanuntertasse. Und dann der Schock: »You are welcome, Sir.« In Gegenwart meiner Mutter nannte mich die Bardame Sir! Diese Phrase ging mir augenblicklich in Fleisch und Blut über, mit ihr wußte ich später im Englischunterricht zu verblüffen.
    Ich entnahm der Schachtel ein Streichholz, ließ es auflodern und führte es vorsichtig – ich tat es zum ersten Mal – in die Nähe der Zigarette.
    Meine Mutter war gealtert. Der Kummer der letzten Jahre, meine Inhaftierung und schließlich die Ausbürgerung hatten sich in ihre Züge gegraben. Daran änderte auch die Freude über meinen weltweiten Erfolg nichts. Ihr war der einzige Sohn genommen worden. Wie lange hatten wir uns nicht gesehen? Nach fünf Jahren war mir endlich von den Ungarn die Einreise genehmigt worden. Bis zuletzt hatten wir geglaubt, daß einer von uns an der Grenze zurückgeschickt werden würde, so wie wir schon oft im letzten Augenblick abgewiesen worden waren. Dann aber hatte sich das Unvorstellbare ereignet, und Mutter und Sohn konnten einander in die Arme schließen. War es nicht verständlich, daß die Worte, wenn überhaupt, nur langsam kamen,daß wir still nebeneinander die Gegenwart des anderen genossen?
    Ich weiß nicht, woran meine Mutter dachte, während wir auf Kaffee und Orangensaft warteten.

Weitere Kostenlose Bücher