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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Alles, was ich wollte, war lesen.
    Ich begann die Lektüre auf einer Bank am Donauufer. Ich las und las und liebte Mutter dafür, daß sie nichts weiter tat, als zu rauchen und sich zu sonnen. »Freu dich nicht zu früh«, mahnte sie abends. »Wir haben es noch nicht über der Grenze.« Niemals, unter keinen Umständen dürfe ich sagen, daß der Freud mir gehöre, denn das könne mich schlimmstenfalls die Schule, das Abitur, das Studium, also meine ganze Existenz kosten.
    Sooft mir später Frau Nádori eine Woche Quartier gewährte, durchstöberte ich in den ersten beiden Tagen die Antiquariate und stattete dem Geschäft in der Váci utca einen Besuch ab. Es war quälend, maßzuhalten. Jedes Buch kürzte meine Tagesration. Ich mußte überlegen, welche und wie viele Lebensmittelich mir leisten konnte – ein fremdes, bestürzendes Gefühl, das mir wie Hungern erschien. Doch alle ungekauft in der Buchhandlung zurückgelassenen Bücher schmerzten mich. War ich denn überhaupt berechtigt, irgend etwas zu schreiben, solange ich nicht alles von Freud, nein, überhaupt alles gelesen hätte?
    Auf dem Rückflug erleuchtete das Abendrot den Himmel. Es war noch hell genug, um kurz vor der Landung unser Haus zu erspähen. Darin, daß ich es von so weit oben hatte ausfindig machen können, sah ich eine Auszeichnung des Ortes, zu dem wir zurückkehrten. Und für einen Augenblick dachte ich: So sieht Gott auf uns herab.
    Genug für jetzt. Ich muß los. Und wieder mit der Erwartung, heute einen Brief zu erhalten.
    Ihr Enrico

 
     
    Mittwoch, 28. 3. 90
     
    Lieber Jo!
    Jetzt auch noch Böhme! Das wird ja immer absurder. De facto hat also die Staatssicherheit die Oppositionsgruppen gegründet. 118 Hier ist der CDU -Kandidat zurückgetreten, als es hieß, die Volkskammerabgeordneten würden überprüft. 119
    Die letzte Zeitung hat sich besser verkauft. Auf meinenWahlkommentar gab es ein paar Reaktionen. 120 In einem Leserbrief heißt es, das DDR -Volk habe sich vor der ganzen Welt blamiert. Am Schluß wünscht man uns höhnisch, in der von uns doch so bewunderten Marktwirtschaft nicht allzu schnell pleite zu gehen. Auch der Prophet erschien wieder. Plötzlich stand er in der Redaktion, sah von einem zum anderen, ohne unseren Gruß zu erwidern, reckte triumphierend sein Kinn vor, so daß sein Zuckerwattebart in den Raum ragte, und zerriß mit erhobenen Händen ein Papier, unser Abo-Formular, wie sich herausstellte. Die Schnipsel warf er in die Luft. »Das war’s«, sagte er und verließ uns schnellen Schrittes. Die Szene wirkt um so grotesker, da Fred uns versichert hat, der Name des Propheten tauche in den Abonnentenlisten gar nicht auf.
    Wir haben jetzt vier Seiten mehr. Da ist es schon ein Erfolg, wenn wir bis ein Uhr morgens fertig werden.
    Heute vormittag sah der Baron bei uns herein, um von seinen neuesten Entdeckungen zu berichten. Astrid, der Wolf, trottet immer gleich zum Wassernapf.
    Wieder war von der Madonna die Rede. Angeblich weiß niemand, wie sie ins Pfarramt gekommen ist. Er hat schon einen Sachverständigen aus Hildesheim eingeladen, der Aufklärung schaffen soll. »Wollen wir sie den Schwarzen ausspannen?« fragte Barrista. Aus seiner Collegemappe zog er einen Bildband 121 , eingeschlagenin den gleichen abwaschbaren Schutzumschlag wie Roberts Schulatlas. Er las uns daraus vor. Sinngemäß heißt es dort, daß Altenburg mit den sienesischen und florentinischen Tafelbildern eine Sammlung besitze, in der man die Geburt der nachantiken abendländischen Kunst nachvollziehen könne. Ob ich seine Pläne erriete.
    »Stellen Sie sich vor, der Erbprinz kommt, und die Madonna zieht im Triumph ins Museum!«
    Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum das so wichtig sein soll.
    Beim Sprechen beäugte Barrista die Schüssel voller Pfannkuchen, die Ilona genau auf der Mitte des Tisches plaziert hatte. Ich bat ihn zuzugreifen. Das tat er, und nicht zu knapp, und vergaß darüber die Madonna. Seine Lippen spitzten sich, er leckte am Zucker und riß den Mund weit auf. Mit jedem neuen Pfannkuchen, den Barrista verschlang, wurden Ilonas Augen größer. Sie kaute noch am ersten. Nachdem Barrista die Schüssel geleert hatte, seufzte er, streichelte gedankenverloren seinen Kugelbauch, rutschte auf dem Stuhl etwas tiefer und schleckte Finger für Finger seiner Rechten ab. Die herabhängende Linke überließ er dem Wolf zur Säuberung. Ilona kaute und kaute.
    In unsere Idylle platzte ein älterer Herr. Er fragte nach Georg, er sei

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