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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Sonst war mir ihre gelegentliche Raucherei immer peinlich gewesen, weil sie lieber die Augen zusammenkniff und hustete, als von ihrer Nachahmung abzulassen, für die ich das Vorbild nicht kannte. Hierher aber paßte sie gut.
    Von meiner neuen Rolle war ich derart gebannt, daß ich die Westler verachtete, alles Kinder, egal ob jung oder alt. Diese Ahnungslosen! Was wußten sie schon von den Härten der geteilten Welt, sie, die nach allem grapschen konnten, in ihrer und erst recht in unserer Welt.
    Durch die Fensterfront hinter der Theke erblickte ich die Säulen, Bögen und Mauerreste einstigen Glanzes. Über ihnen erhob sich jetzt der Turm. Hier oben lag einem die Stadt zu Füßen wie ein Geschenk, hier war der Ort meines Triumphes. Selbst die Westler verstummten, wenn sie mich erkannten.
    Während ich träumte, hatte meine Mutter ein Obsttörtchen geordert. Nein, das war für sie! Sie sollte das Obsttörtchen genießen, ich konnte das täglich haben. Aber natürlich mußte ihr, die ich im teuersten Zimmer einquartiert hatte, alles übermäßig neu und unfaßbar vorkommen. Sie durfte die ganze Herrlichkeit nicht zu sehr an sich heranlassen, wollte sie weiterhin einen Fuß vor den anderen setzen. Also aß ich das Törtchen.
    Um zu demonstrieren, wie heimisch ich mich fühlte, ging ich auf die Toilette und setzte mich auf die blanke Klobrille, was ich sonst ausschließlich zu Hause tat. Nie wieder habe ich – oh, Nicoletta, bitte verzeihen Sie mir diese Intimitäten –, nie wieder habe ich so glücklich gekackt. In jenem Moment beschloß ich, Ungarisch zu lernen.
    Ich wusch mir ausgiebig die Hände mit warmem Wasser undflüssiger Seife, betrachtete mich in dem riesigen Spiegel – und gefiel mir.
    Meine Mutter erwartete mich. Sie faßte meine Hände und roch daran. »Wie die duften«, flüsterte sie. Mit diesen Worten traten wir hinaus auf die Straße.
    Mindestens
zwei
Rollen standen für mich in den nächsten Tagen zur Auswahl. Ich pendelte hin und her zwischen der des ausgebürgerten Schriftstellers und jener des beobachtenden frühreifen Dichters. Sie unterschieden sich nur um einige Jahre.
    Am darauffolgenden Tag pilgerten wir durch die Váci utca. Hatte ich mich bei unseren früheren Besuchen nach Devotionalien wie T-Shirts mit Aufdrucken, Formel-1-Bildern oder Schallplatten umgesehen, so zog es mich diesmal vor die Buchauslagen. Die Umschläge gaben wie zum Spott die Namen der Schriftsteller preis – Böll, Salinger, Camus –, doch alles Weitere verbarg sich hinter einer unaussprechlichen Buchstabenballung.
    Als ich jetzt wieder vor einem Buchladen stehenblieb, merkte ich zunächst gar nicht, daß ich las und verstand. Im Geschäft bezweifelte ich tatsächlich das, was ich sah. Selbst als der Verkäufer, vor der zahlreichen Kundschaft geschützt durch die Ladentheke, das Buch aus dem Regal nahm und mir überreichte, begriff ich nur langsam. Es war auf deutsch, es war in Frankfurt am Main gedruckt, es trug das Siegel der drei Strichfischlein, und selbst beim wiederholten Lesen änderten sich weder Titel noch Vor- und Nachname des Autors. Ich hielt, obwohl das unmöglich war, Sigmund Freuds »Traumdeutung« fest in meinen Händen.
    Endlos dehnten sich die Augenblicke, bis sich Gelegenheit fand, nach dem Preis zu fragen. Allmählich sickerte die Gewißheit in mich ein, daß ich dieses Buch nie wieder würde hergeben müssen.
    Wenn ich gerade dieses Werk von Freud begehrte, sagte meine Mutter, wollte sie es gern kaufen. Mehr aus Pflichtschuldigkeit denn aus Neugier ließ ich mir einen Freud nach dem anderen geben. Der Verkäufer, der offensichtlich jedes Buch zurück ins Regal zu stellen hatte, bevor er ein neues herausrücken durfte, kapitulierte nach einem Blick über den Brillenrand und türmte die gesammelten Werke vor mir auf. Die Situation war hoffnungslos. Selbst wenn wir die Bar im »Hilton« gemieden hätten und sofort abgereist wären, unser Geld hätte auch dann nicht für alle Bände gereicht. Können Sie mich verstehen? Da eröffnet sich durch ein Wunder die Möglichkeit, etwas zu kaufen, was man nicht kaufen kann, und dann reicht das Geld nicht.
    Ich entschied mich tatsächlich für die »Traumdeutung«, weil es das dickste Buch war und kaum teurer als die anderen. Ich überwachte seinen Weg zur Kasse und das Verpacken, zerriß aber, kaum auf der Straße, das ziegelförmige Paket, um die »Traumdeutung« als meinen unwiderruflichen Besitz zu begrüßen.
    Mir war es egal, wohin meine Mutter ging.

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