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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Brillengläser aus dem Boden von Limonadenflaschen gemacht schienen. Alles, was ich mir in meinen kühnsten Sommerträumen ausgemalt hatte, vollzog er mit beiläufiger Geste, so wie er die Hausaufgaben beim Spaziergang erledigte, während ich bis in den Abend über den Schulbüchern brütete. Er spielte jene Rolle, die ich mir für später hatte reservieren wollen. Und er spielte großartig. Er war nicht nur der Klassenbeste, der ausschließlich druckreife Sätze in einer leicht altertümlichen Diktion von sichgab, die bei jedem anderen zum Lachen gereizt hätten, er wurde von Schülern und Lehrern gleichermaßen geliebt. Wer Geronimo nicht liebte, brachte ihm zumindest Achtung entgegen, und das auf eine Art und Weise, wie ich es nie zuvor einem Gleichaltrigen gegenüber erlebt hatte. Mit Geronimo führte nicht Myslewski »persönliche Gespräche«, sondern der Direktor.
    Geronimo war mein Alptraum. Dabei hätte ich ihm dankbar sein müssen. Mir widersprach er nicht im Deutschunterricht, mich hatte er noch nie im Russischen oder Englischen mit Vokabeln zugeschüttet, die ich gar nicht kennen konnte, mir schob er die Hausaufgaben zu, die mir unlösbar erschienen waren. In der Musikstunde hatte er sich allerdings die Ohren zugehalten, während mein Vorsingen unter dem Gelächter der Klasse verendet war. Nur im Sportunterricht versagte er vollkommen.
    Geronimo hatte mich zu seinem Kompagnon erkoren, besser gesagt, zu seinem Gefolgsmann. Wöchentlich verlangte er von mir einen neuen Hesseband. Im Gegenzug erhielt ich schiefgelesene und in Zeitungspapier eingeschlagene Wälzer von Werfel. Ich rührte sie nicht an, schon weil mich ihre fleckigen, vergilbten Seiten ekelten. Er dagegen mäkelte an Hesse herum, führte ihn aber oft im Mund. Niemand ahnte, daß auch ich diese Bücher kannte, geschweige denn, daß er sie von mir hatte. Das hätte ich als Preis für seine sonstigen Schonungen akzeptiert, doch es verging keine Woche, in der er mich nicht fragte: Warum machst du das denn? Was? fragte ich jedesmal, errötete und begann zu schwitzen. Er beäugte mich durch seine Tiefseebrille und verzog schmerzlich die Mundwinkel. Das hieß: Wenn du ein Christ bist, warum verweigerst du nicht auch den Dienst an der Waffe, warum bejahst du die Frage, daß das Sein das Bewußtsein bedingt, warum betest du nicht vor dem Essen, warum wird deine Stimme hoch und dünn, wenn dich Myslewski anspricht, warum verschwendest du so viel Zeit auf diesen Schulkrempel.Geronimo mußte keine Fragen mehr stellen. Ich hatte sie alle parat.
    Jeder Tag begann in Erwartung seines peinlichen Exerzitiums. Jeden Heimweg trat ich entweder erleichtert an, weil ich ihm für diesmal entgangen war – oder ich litt Höllenqualen. Denn jedesmal blieb ich die Antwort schuldig und hoffte, die Schulklingel beende unsere seltsame Zwiesprache. Zum Schluß bekam ich oft ein Bibelzitat zu hören wie: »Fürchtet euch nicht, denn ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.« Einmal sagte er: »Ich könnte mir vorstellen, daß du einen ganz guten Katecheten abgeben würdest.« Ich durfte froh sein, daß Geronimo, der Theologie studieren wollte, mich überhaupt zu etwas nützlich fand.
    Sowenig ich in der Lage war, Geronimo zu antworten, so unmöglich war es mir geworden, Tagebuch zu führen oder zu beten – abgesehen von einigen inbrünstigen Vaterunsern. Was hätte ich schreiben sollen, worum bitten? Ich wußte doch, was richtig war, was falsch. Es gab die Lüge, und es gab die Wahrheit – Verräter oder Gottesmann. Ich mußte meine Selbstanklage nicht noch schriftlich führen. Ich wußte so gut wie jeder andere, daß es kein einziges Argument gab, das zu äußern nicht das Eingeständnis meiner Schuld gewesen wäre. Feigheit, Duckmäusertum, Zweifel, Schwäche – warum verhielt ich mich nicht wie Geronimo? Warum lebte ich wie alle anderen?
    Dieser Zwiespalt verschärfte sich noch einmal Ende Oktober, in der Woche nach den Herbstferien, in denen mich eine Grippe vor schlimmeren Qualen bewahrt hatte.
    Am Montag beorderte mich Myslewski zu einem weiteren Kellergespräch. Ich fühlte mich ausgezeichnet, so überraschend und als einziger zum zweiten Mal vorgeladen zu werden. Geronimo ließ alle wissen, daß er vor der Schule auf mich warten würde – um mir zu helfen, um mir beizustehen.
    Myslewski war auf meine Weigerung, Offizier der Nationalen Volksarmee zu werden oder zumindest als Unteroffizier drei Jahre lang die Heimat mit der Waffe in der Hand gegen alle

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