Neue Leben: Roman (German Edition)
Gesellschaft zu verplempern 132 .
Geronimo mied mich, ohne mich zu attackieren. Er bete für mich, flüsterte er mir einmal zu, als er mich dabei überraschte, wie ich seine scharf abgesetzten Kieferknochen und seinen nervösen Mund beobachtete.
Ich gönnte mir neben dem Triumph, sowohl ihm als auch Myslewski entronnen zu sein, eine kleine Rache.
Sobald es im Sportunterricht zu irgendeinem Spiel kam – meistens Fußball oder Volleyball – und Geronimo und ich in eine Mannschaft gewählt wurden, er regelmäßig als letzter, ließ ich keine Gelegenheit aus, Geronimo anzuspielen, um ihn, wie es der Sportlehrer forderte, einzubeziehen.
Geronimo fürchtete nichts so sehr wie einen Ball. Sein Körper duckte sich instinktiv. Er mußte seinen Fluchttrieb unterdrücken – und wenn er sich dann, wie er es immer tat, dem Feind stellte, war es zu spät. Ich hatte schnell Erfolg. Bald galt es als Sensation, wenn die Mannschaft gewann, zu der Geronimo gehörte. Hohn, Spott und Wut entluden sich nur auf ihn. Das Altruistische meiner Zuspiele stand offenbar nie in Frage. 133
Am Tag der Zeugnisausgabe, am Ende der zehnten Klasse, wurden fünf Mitschüler »verabschiedet«. Vier, die wegen ungenügender Leistungen gehen mußten – ich hatte mich ins Mittelfeld gerettet –, und Geronimo, der an seiner Wehrdienstverweigerung festhielt. Vor unserem letzten gemeinsamen Schultagkehrten die alten Beklemmungen zurück. Ich ahnte, daß jetzt eine Abrechnung fällig war, daß Geronimo durch eine spektakuläre Tat, die er seit Monaten geplant hatte, endgültig in unsere Gedächtnisse eindringen wollte. Aber das fürchtete ich nicht. Ich war unsicher, weil ich mich so sicher fühlte, weil ich mir keine Attacke vorstellen konnte, die mich wirklich hätte treffen können. Meine Angstlosigkeit machte mir plötzlich angst.
Die Erinnerung an diesen Tag ist in grelles Julilicht getaucht. Die langen, nie ganz sauberen Finger Geronimos zitterten über der Tischplatte.
»Auch von Ihnen muß ich mich heute verabschieden«, sagte Myslewski und baute sich vor unserer Bank auf. Nachdem sich Geronimo ganz aufgerichtet hatte und Myslewski um einen Kopf überragte, durchfuhr ihn eine Art Schüttelfrost. Myslewski verkündete mit dem Blick auf das Zeugnis die Durchschnittsnote: eins Komma null ohne die Drei im Sport. Irgendwie bekam Myslewski Geronimos Hand zu fassen und hielt sie eine Weile fest.
Geronimo beugte sich im Hinsetzen nach vorn, als müsse er brechen, und begann zu heulen. Er heulte, als hätte er sein Leben lang alle Tränen aufgespart und versuchte sie nun in dreißig Minuten loszuwerden. Unter diesem Heulen, mal schluchzte er auf, mal wimmerte er, bekamen wir unsere Zeugnisse ausgehändigt.
Ich legte meine Hand auf seine Schulter, auf seinen Kopf. Einmal strich ich ihm übers Haar, das fettig war. Geronimo sah bis zum Klingeln nicht mehr auf.
Danach verließ ich das Klassenzimmer, um mir die Hände zu waschen.
Als ich zurückkehrte, war Geronimo von unseren Mitschülern umringt. Sie umstanden ihn so dicht, daß ich ihn nicht mal mehr sehen konnte. Deshalb trennten wir uns ohne Abschied.
Plötzlich schauderte ich bei dem Gedanken, diese Szene jetzt oder dereinst in Literatur zu verwandeln und aus meiner schmierigen Hand eine Metapher zu machen. Weil mir das bis heute nicht gelungen ist, erinnere ich mich an diesen Tag noch sehr genau. 134
Sonnabend, 31. 3. 90
Lieber Jo!
In den letzten Tagen haben sich die Ereignisse überschlagen, und ich gäbe einiges darum zu wissen, wie es um uns bestellt sein wird, wenn Du diese Zeilen liest.
Am Freitag saßen wir zusammen, Georg, Jörg, Marion und ich. Es war zu entscheiden, ob wir den Artikel unserer Umweltbibliothek bringen. Es geht nicht um Altenburg, sondern um Neustadt an der Orla, wo man Mitte der Siebziger in den schönsten Thüringer Wald eine Mastanlage für zweihunderttausend Schweine gebaut hat. Die Kinder in der Umgebung bekamen Erstickungsanfälle, im Brunnenwasser waren Grenzwerte um das Zehnfache überschritten, die Dörfer erhielten ihr Wasser nur noch aus Tankwagen und dergleichen mehr. Jetzt will sich unser Anzeigenkunde Pipping-Fenster dort einkaufen. Der springende Punkt ist, daß sie die Betriebsleitung der Schweinemast übernehmen wollen. Die aber gehörte zu Schalck-Golodkowski. Achtzig Prozent der Schweine waren für den Export bestimmt. Eine Umweltschützerinhat deshalb einen offenen Brief an Herrn Pipping geschrieben, weshalb einige der darin
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