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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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verspürt.
    Aber war der Junge dort am Lehrertisch überhaupt ich? Schwebte
ich
nicht über allem, für niemanden mehr erreichbar, doch alles im Blick, wie ich es nie zuvor im Blick gehabt hatte? Ich schaute herab, ich schaute auf das Geschehen unter mir, ein Diorama aus dem Schulleben, nichts Ungewöhnliches. Jener Enrico Türmer interessierte mich genausoviel oder genausowenig wie die anderen Schüler. Enrico Türmer unterschied sich nur darin von ihnen, daß ich ihm Anweisungen geben konnte. Ich sagte: Lächle, und er lächelte. Ich sagte: Wehr dich nicht, bleib stehen und bitte darum, den Kurzvortrag halten zu dürfen – und er bat darum, den Kurzvortrag halten zu dürfen. Ich sagte: Überhöre die Aufforderung, dich zu setzen, und er überhörte die Aufforderung, sich zu setzen. Ich schwieg. Ich wollte sehen, was er ohne mich tun würde. Enrico Türmer schwieg ebenfalls. Ein paar Atemzüge später wiederholte er: »Ich würde jetzt gern meinen Kurzvortrag halten, ich habe mir viel Arbeit damit gemacht.«Nachdem er auch die zweite Aufforderung, sich zu setzen, ignoriert hatte, wußte ich genug. Noch ein kurzes atemloses Zögern – dann willigte ich ein, und Enrico Türmer kehrte auf seinen Platz zurück.
    Er hörte das Räuspern Geronimos, die auf dem Bodenbelag quietschenden Schuhe Myslewskis. Er sah sich um – niemand erwiderte seinen Blick. Mit dem Stundenklingeln erhob sich Enrico Türmer wie alle anderen von seinem Platz und verfolgte lächelnd den Abgang Myslewskis. Ihm schien, Geronimo, der als zweiter aus der Tür huschte, folgte jenem nach wie ein Gehilfe, als wollte er das Klassenbuch ins Lehrerzimmer tragen.
    Sie müssen mir glauben, daß ich vollkommen glücklich gewesen bin in diesen Minuten. Der Umschwung war grandios. Ahnen Sie überhaupt, was passiert war? Können Sie sich vorstellen, was ich plötzlich begriffen, was ich schlagartig erfahren hatte?
    Ich war unangreifbar, ich war zum Schriftsteller geworden!
    Dabei erschien mir diese Erkenntnis nicht als Offenbarung, eher als etwas, was ich immer schon gewußt hatte, was mir nur in letzter Zeit aus verschiedenen Gründen entfallen war.
    »Ich könnte mir vorstellen«, äffte ich auf dem Heimweg Geronimo nach, »daß du einen wirklich guten Katecheten abgeben würdest.« Klänge es nicht zu pathetisch, müßte ich sagen: Ich lachte höllisch. Ein Vierzehnjähriger 130 kann das besser, als man gemeinhin wahrhaben möchte.
    Muß ich noch sagen, daß ich erst Tage später überhaupt bemerkte, Gott verloren zu haben, daß er ausgelöscht worden war, ohne daß ich davon Notiz genommen hatte? Kein einziges Vaterunser ist mir seither über die Lippen gekommen.
    Ich schwebte jetzt dort, von wo aus Gott auf die Menschen geschaut hatte. Nun war ich es, der auf sie herabblickte, auf mich so gut wie auf Geronimo oder Myslewski, und beobachtete, was sie da trieben. Ich wußte, daß es wenig Bedeutung hatte, ob sie mutig oder feige waren, stark oder schwach, ehrlich oder verlogen. Wichtig waren sie allein deshalb, weil ich sie beobachtete.
    Geronimo konnte tun und lassen, was er wollte. Es würde untergehen im allgemeinen Gewusel. Ich würde bestimmen, welches Bild von ihm bliebe. Ja, es würde sich überhaupt niemand für Geronimo interessieren, wenn ich nicht heute, morgen oder dereinst über ihn schriebe. 131 Ich verfügte über den Schlüssel zu Dantes Hölle.
    Mein gescheiterter Vortrag hatte kein Nachspiel. Ich sprach mit niemandem darüber. Meine Mutter speiste ich mit der Erklärung ab, das Stundenklingeln habe mich unterbrochen.
    Ich hatte allen Grund, mein Erlebnis verborgen zu halten. Eine Zeitlang vertuschte ich es sogar vor mir selbst und versuchte, meiner Angstlosigkeit eine andere Herkunft zu geben. Daß meine Novelle eine andere überraschende Wendung nahm, versteht sich von selbst.
    Damals ahnte ich nicht, welchen Preis ich noch für meine Angstlosigkeit zahlen sollte.
    Meine Sprache, meine Stimme veränderten sich innerhalb weniger Tage. Ich redete lächelnd. Alles, was ich sagte, bekam eine Zweideutigkeit, die mich in der Klasse isolierte. Was meinte ich ernst? Was war Spiel? Zum ersten Mal führte ich ein Außenseiterdasein. Die anderen interessierten mich nicht mehr. DerUmgang mit Menschen, jedenfalls mit Gleichaltrigen, war Zeitverschwendung. Konnte sich denn die Intensität eines Gesprächs je mit der einer Lektüre messen? Ich brauchte meine wenigen freien Stunden zum Lesen und zum Schreiben. Sie waren zu kostbar, um sie in

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