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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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helle Freude daran gehabt, wie ich mit den beiden Westlern umgesprungen sei. Diese hätten sich schließlich als Geschäftsleute zu erkennen gegeben, die hier »ganz groß« in Sachen Video einsteigen wollten.
    Sie habe sogar vor sich hin lachen müssen, weil es mir so gut gelungen sei, die hiesige Gier auf Videos zu beschreiben, auf besondere Videos eben, ich wisse ja, was darunter zu verstehen sei.
    Meine Behauptung, für nächste Woche könne keine Werbung mehr angenommen werden, schon jetzt seien wir überbucht, ja, überbucht hätte ich gesagt, und seien zu unserem größten Bedauern – unter den derzeitigen Umständen – auch nicht in der Lage, von heute auf morgen die Seitenzahl zu erhöhen, diese Behauptung habe sie gewundert.
    Der eine habe immer nur gefragt, wieviel es koste, was sie, Ilona, sofort kapiert habe, aber ich hätte mich dumm gestellt. Schließlich habe sie sich hinüber in die Redaktionsstube getraut. Zunächst habe sie nur Rücken gesehen, zwei anthrazitfarbene, sich über den Tisch beugende Mantelrücken. Und dann, ja dann den Herrn von Barrista auf dem Drehstuhl, die klebrigen Hände über dem Bauch gefaltet. Barrista hätte mit meiner Stimme gesprochen, ja, er hätte sie angegrinst und einfach weitergeredet, das könne sie beschwören, ja, mit meiner Stimme!
    Ich ließ ihr Zeit, sich auszuweinen, und versuchte sie danach möglichst schnell auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen.
    Ich fragte Ilona, was daran denn so schlimm sei. Sie habe einfach die Stimmen aus dem linken Zimmer mit denen im rechten verwechselt, beide Räume lägen ja gleich weit entfernt von derKüche, eine akustische Täuschung eben. Warum sollte mich denn der Baron imitieren?
    Ilona aber schüttelte den Kopf. Was das denn bedeuten solle, fragte ich. Wieder schüttelte sie den Kopf; zu allem, was ich sagte, schüttelte sie immer nur den Kopf.
    Plötzlich stand Pohlmann in der Tür. Er bot mir an, den Hefter für ein paar Tage hierzulassen. Ich dankte ihm.
    »Das Geld«, sagte Ilona plötzlich. »Wo ist das Geld?« Es lag noch als Fächer auf dem Tisch. Statt sich zu beruhigen, zeigte Ilona auf die Schüssel und flüsterte: »Er hat sie alle allein gegessen!«
    Ich schickte Ilona zum Bäcker. Die frische Luft tat ihr gut. Sie hat auch dichtgehalten, weil ich Georg gegenüber schlecht sagen konnte, Barrista habe die Anzeige für uns angenommen. Wir bekamen uns auch so gehörig in die Haare, weil in der folgenden Ausgabe wieder Steens Seite kommen muß. Georg behauptet, wir schaufelten uns des kurzzeitigen finanziellen Erfolges wegen selbst das Grab. Ich hatte völlig falsch argumentiert und behauptet, der Artikel, der uns eine Auflagensteigerung im Werte von tausendzweihundert D-Mark 122 bringe, müsse erst noch geschrieben werden. Jörg griff erst ein, als ich anbot, Geld und Anzeige zurückzubringen. Denn eigentlich geht mich das alles gar nichts an.
    Sei umarmt,
    Dein E.

 
     
    Freitag, 30. 3. 90
     
    Liebe Nicoletta!
    Ich weiß nicht, ob ich das, was ich jetzt erleben darf, eine Entschädigung nennen soll für all das, was mir bisher entgangen ist. Glauben Sie mir, ich liebe das Aufwachen, und ich liebe das Einschlafen, das Putzen der Zähne befriedigt mich ebensosehr wie das Einkaufen oder staubzusaugen. Ich liebe es, den Preis für eine halbseitige Anzeige mit zwanzig Prozent Rabatt aufgrund wöchentlicher Schaltung und fünfzig Prozent Aufschlag für die letzte Seite auszurechnen. Egal was ich tue, mich durchströmt eine stille Leidenschaftlichkeit, eine Befriedigung, die sich nur schwer mitteilen läßt. Es ist nicht die Selbstverlorenheit eines spielenden Kindes, wenn es auch davon am ehesten etwas hat. Als würde ich jene Gegenstände in die Hand nehmen können, die ich bisher nur gesehen habe, als erführe ich erst in diesen Tagen, daß die Welt ein Raum ist und ich selbst ein Körper. Als wäre ich endlich befugt, am Leben teilzunehmen. Jede Erinnerung, gerade weil sie mir so elend aufstößt, läßt mich ermessen, wie wunderbar die Gegenwart ist.
    Ich wünschte, Ihnen meinen Sündenfall so beschreiben zu können, wie ich ihn erinnerte, bevor ich meine Novelle begann. Denn jetzt gibt es kaum eine Erinnerung mehr, der ich – zumindest was jene Oktobertage betrifft – vertrauen könnte. Zu oft habe ich mit diesen Bildern herumgespielt.
    Denken Sie an die Wanderkarte vor einem Ausflugslokal, auf der mit rotem Punkt Ihr Standort markiert ist, bis ihn die unzähligen Fingerkuppen, die Tag für Tag darauf

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