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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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    Dabei stand uns der eigentliche Urknall noch bevor. In Stimmung gebracht, glaubte ich mit einer eigenen Idee brillieren zu müssen und schlug vor, die Leute, die wegen der Anzeigen für den Stadtplan Läden und Betriebe aufsuchten, sollten auch nach Werbung für die Zeitung fragen. Robert nickte.
    Im halboffenen Mund des Barons sah ich den Brei aus Kartoffeln und Würstchen.
    »Wie?« fragte er und kaute hastig. »Sie haben keine Akquisiteure?« Ich schüttelte den Kopf.
    »Keine Außendienstmitarbeiter, Klinkenputzer, oder wie immer Sie die nennen?«
    »Nein!« beteuerte ich.
    »Sie –« begann er und beeilte sich, den Bissen herunterzuschlucken, »Sie sitzen da in Ihrer Redaktion und warten, bis die Leute zu Ihnen kommen?«
    Ich bejahte.
    »Und Frau Schorba?«
    »Eine Ausnahme«, sagte ich.
    Der Baron brach in ein fürchterliches Gelächter aus und verschluckte sich dabei.
    Ich kann Dir nicht den ganzen Abend schildern. Er endete merkwürdig. Denn plötzlich fiel Barrista ein, daß er sein Zimmer doch habe behalten können. Sein Aufbruch erfolgte abrupt.
    Wir begleiteten ihn zum Wagen, einem roten Saratoga. Beim Abschied setzte er eine Mütze auf, die genauso aussah wie jene, die er Robert geschenkt hatte. Als er abfuhr, bog ein Taxi in unsere Straße ein, dem Michaela entstieg.
    Zuerst erschrak sie, dann schimpfte sie, Robert gehöre längst ins Bett. Sie befühlte seine Stirn – er hatte tatsächlich erhöhte Temperatur. Den Dschungelstrauß verpflanzten wir in unseren größten Steinguttopf. Er steht nun auf dem Fußboden mitten im Wohnzimmer und duftet betörend.
    Ich dachte an Stadtpläne und Akquisiteure, schlief unruhig und erwachte zerschlagen, als hätte mich die Nacht noch einmal so viel Kraft gekostet wie der gestrige Tag. Allein der Gedanke an Robert munterte mich auf.
    Ich würde Georg herzlich begrüßen und ihn einfach bitten, mir seinen Anteil zu verkaufen. Zehntausend D-Mark wollte ich ihm fürs erste anbieten.
    Michaela hatte Kopfschmerzen und blieb im Bett. Ich versprach ihr, möglichst bald wieder zurückzusein.
    Als ich die Redaktion betrat, verlor ich alle Hoffnung: Georg, Jörg und Marion hockten einträchtig beieinander und tranken Tee. Es klingt lachhaft, aber ich kam zu spät. Ich hatte mein Glück vielleicht um eine halbe Stunde verpaßt.
    Ihre Freundlichkeit, ja Herzlichkeit war grausam. Ich bekam eine Tasse und ein großes Stück von Marions Kuchen. Daß sie ausgerechnet heute Geburtstag hatte, schien mein Schicksal zu besiegeln.
    Dann aber kam alles ganz anders.
    Einer von Georgs Jungen heulte plötzlich im Garten laut auf, und Georg ging hinaus, um nach ihm zu sehen.
    Jörg sagte über den Tisch hinweg, daß alles geklärt sei, ich brauche mir keine Gedanken zu machen. Georg wolle einen Schlußstrich, nichts weiter. Nun sei es an mir zu sagen, ob ich bereit sei, Georgs Anteil zu übernehmen und ab jetzt mit ihm, Jörg, gemeinsam den Kopf hinzuhalten und für alles geradezustehen. Marion wolle er nicht damit belasten, die Zeitung solle nicht ihr Familienbetrieb werden. Ich müsse das nicht sofort entscheiden, aber ihm fiele ein Stein vom Herzen, könnte ich mich zu einem Ja durchringen.
    Schluck für Schluck trank ich meinen Tee und wartete, bis ich glaubte, ihm wieder mit fester Stimme antworten zu können.
    Gleich ist es zwei, und ich bin hoffentlich müde genug, um endlich Schlaf zu finden.
    Dein E.

 
     
    Mittwoch, 4. 4. 90
     
    Liebe Nicoletta!
    Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Briefe Sie überhaupt erreichen, geschweige denn, ob Sie sie lesen. Solange aber keiner zurückkommt oder Sie mich nicht ausdrücklich bitten, Sie mit meiner Geschichte zu verschonen, will ich fortfahren.
    Von Geronimo hörte ich lange nichts. Er war mit Beginn der elften Klasse nach Naumburg gewechselt, ans kirchliche Proseminar, dessen dreijährige Ausbildung offiziell nicht anerkannt wurde, so daß er de facto ohne Abitur blieb. Hin und wieder ließ er mich in Briefen grüßen, die er mit einigen Mädchen aus unserer Klasse wechselte.
    Wundersamerweise war ich zu Beginn der elften Klasse in denSchulchor aufgenommen worden und nahm bereits im November, versteckt im ersten Baß, an einer Aufführung des »Deutschen Requiems« von Johannes Brahms teil. Unseren Musiklehrer wie auch die Proben mit ihm zu beschreiben ist hier nicht der Ort, obwohl die Stunden als Sänger – wenn auch als äußerst mittelmäßiger 144 – die einzigen sind, an die ich mich ohne

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