Neue Leben: Roman (German Edition)
die literarische Abrundung meiner Vorstellung bemüht, sah ich mich in Unterhosen strammstehen, zitternd in der eisigen Zugluft, jedoch unbeugsam.
Glauben Sie mir: Seit der ersten Musterung freute ich mich auf die Armee.
Erwähnenswert ist vielleicht noch ein Intermezzo gegen Ende der elften Klasse, etwa vier Monate nach der Karl-und-Rosa-Episode, als mitten im Unterricht und ohne Vorwarnung die Türklinke krachte und die stellvertretende Direktorin meinen Nach- und Vornamen rief. Ich stand auf, sie winkte mich heran. Ich wußte sofort: Hier ging es nicht um einen Unfall meiner Mutter oder eine andere private Katastrophe.
Ich folgte ihr. Hinter den Türen brummelte der Unterricht. Treppauf, vorbei am Wandbild mit der elften Feuerbachthese von Marx, der zufolge die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, es aber darauf ankomme, sie zu verändern. Ich vertiefte mich in das Spiel der Wadenmuskeln unserer stellvertretenden Direktorin. Im Vorzimmer des Direktors tauschteich mit der Sekretärin einen stummen Gruß. Später beschrieb ich den Geruch als eine Mischung aus Zigaretten, Bohnerwachs, Kaffee und Sperrholz, doch wahrscheinlich nahm ich das gar nicht wahr. Ich versuchte, meiner Aufregung Herr zu werden, indem ich die Sandalen der Sekretärin fixierte.
Geronimo hatte es nur mit dem Direktor zu tun gehabt. Auf mich warteten zusätzlich zwei Männer. Sie saßen nebeneinander an einem Tisch, der mit der Stirnseite an den Schreibtisch des Direktors stieß. Sie ließen sich Zeit mit dem Ausdrücken ihrer Zigaretten. Als sie aufblickten, grüßte ich auch sie.
Ihr Aussehen enttäuschte mich nicht. Zumindest der Ältere mit seinen Triefaugen und den schwarzen zurückgekämmten Haaren entsprach meiner Vorstellung. Der andere wirkte freundlich, Typ Sportkumpel. Der Direktor saß wie ein Schiedsrichter da, die Handflächen aneinandergelegt. Er schien erschöpft und ratlos. Triefauge begann im Tonfall einer Zurechtweisung, sie seien in einer sehr ernsten Angelegenheit hier. Ich hoffte schon, sie würden mich stehen lassen wie einen Häftling, als sich der rechte Zeigefinger Triefauges kurz streckte, was soviel hieß wie: Setz dich!
In Gedanken ging ich meine Gedichte durch. Welches hatte sie hellhörig gemacht, welches hielten sie für das gefährlichste? Die Mappe, auf der die Hände des Sportkumpels ruhten, war stattlich. Wie waren sie da herangekommen? »Ja, Sie sprechen mit dem Autor, doch dieses Gedicht habe ich bereits verworfen«, wollte ich sagen, und es mit Mängeln an Reim und Rhythmus begründen. Kurz zuvor war mir Majakowskis »Ein Tropfen Teer« in die Hände gefallen, ein Insel-Bändchen, in dem er die Verfertigung seiner Gedichte beschreibt – eine empfehlenswerte Lektüre. Der Selbstmörder Majakowski schreibt ein Gedicht gegen Jessenins Selbstmord. Ja, ich plante, unseren Tschekisten Majakowski um die Ohren zu hauen.
Es klingelte zur Pause und wieder zum Unterricht, und ich verstand nicht, worauf ihre Fragen nach meiner Familie, insbesondere nach unserer Westverwandtschaft, hinausliefen. Ja, wir beabsichtigten, nach Budapest zu fliegen. Wenn sie plauschen wollten, bitte, ich hatte Zeit. Sie ersparten mir Chemie und Russisch. Sportkumpel und ich lächelten um die Wette. Er orderte bei der nächsten Tasse Kaffee ein Glas Selterswasser für mich, bot mir eine Zigarette an – um gleich darauf so zu tun, als falle ihm erst jetzt ein, daß ich ja ein Schüler sei.
Jeden Moment erwartete ich die schroffe Wendung, ich war neugierig, wie sie die Kurve zu den Gedichten kriegen würden. Mein erstes Bezirkspoetenseminar hatte mit der Frage begonnen, wer unter den Anwesenden die Meinung vertrete, Literatur müsse Opposition sein?
Damals war alles so schnell gegangen. 149 Jetzt bot sich endlich Gelegenheit, den Fehler zu korrigieren. Wahre Literatur ist per se Opposition!
Mit dem Klingeln zur letzten Stunde fragte mich Sportkumpel, warum meine Mutter plane, gemeinsam mit mir, mit dem hier anwesenden Enrico Türmer, die Deutsche Demokratische Republik auf illegalem Wege zu verlassen? »Wir wollen nur wissen, warum. Beweise dafür haben wir mehr als genug.«
Wut und Scham würgten mich, ich kämpfte mit den Tränen. Sie hielten das für einen Volltreffer! Triefauge und Kumpel schossen tak tak tak tak ihre Fragen ab. Ich bekam Sätze zu hören, die ich in der Pause gesagt hatte, abfällige Äußerungen über den antifaschistischen Schutzwall, Vera wurde zitiert und als staatsfeindlichesElement
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