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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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dicht vor unserer Nase hänge, von uns übersehen würde. Ich erzählte, was ich wußte, daß Jörg und Georg ihre jeweils zehntausend Mark nicht gebraucht und bereits an ihre Mütter zurückgegeben hätten. Die zwanzigtausend D-Mark von Steen waren für den Baron neu. Je mehr ich erzählte, desto unglaubwürdiger kam ihm alles vor.
    Es sei, wie es sei, sagte er schließlich, jedenfalls könne ich von nun an nicht mehr ruhig schlafen. Er wolle sich später keine Vorwürfe machen müssen, deshalb weise er mich im Augenblick größten Glücks darauf hin, daß bei einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts die Eigentümer nicht geschützt seien. »Sie haften mit dem letzten Hemd Ihrer Frau, mit der letzten Hose Ihres Sohnes!« Er beteuerte, daß er nichts unterstellen wolle, aber ich sollte mit so mancher Tücke der neuen Welt rechnen. Zuweilen reiche ein Dachziegel oder eine Bananenschale aus, um eine Firma zu erledigen. Sein Lösungswort laute: GmbH! Er malte die Buchstaben an die beschlagene Frontscheibe und dozierte weiter. Dann kramte er im Handschuhfach und überreichte mir als Abschiedsgeschenk einen dtv-Band. Die Gebrauchsspuren markieren das GmbH-Gesetz.
    Sei umarmt
    Dein Enrico

 
     
    Sonntag, 8. 4. 90
     
     
    Liebe Nicoletta!
    Als ich vorhin erwachte, verspürte ich eine seltsame Freude. Es war Vorfreude, und wissen Sie, worauf? Auf jetzt, auf diesen Augenblick, da ich Ihnen schreiben kann. Das ist, als setzten Sie sich zu mir. Und was ich Ihnen erzähle, erhält durch Sie eine ganz eigene Färbung. Ich teile meine Erinnerung mit Ihnen, nur mit Ihnen. Wem sonst sollte ich davon berichten. 152 Und jedesmal bin ich kurz davor, Ihnen richtige Liebesbriefe zu schreiben. Es bedarf meiner ganzen Willensanstrengung, es nicht zu tun! Sie sind in mein Leben getreten, doch noch bevor ich überhaupt die Arme nach Ihnen ausstrecken konnte, wurden Sie mir schon wieder genommen. Ohne Sie fühle ich mich unvollständig, wie amputiert 153 . Und ich habe Angst, daß Sie bei einem Wiedersehen alles vergessen haben werden […] und mich nicht einmal mehr erkennen. Damit ich kein Fremder für Sie werde, fahre ich fort.
    Im Oktober 80, ich war in der zwölften Klasse, erhielt ich ein Telegramm. Geronimo fragte, ob er am Sonnabend bei uns übernachten dürfe, und nannte seine Ankunftszeit. Nicht, daß ich einen Besuch Geronimos erwartet hätte; aber überrascht war ich nicht.
    Geronimo war noch gewachsen, er war jetzt eindeutig größer als ich, die Haare reichten ihm über die Schulter und glänzten so fettig, daß meine Mutter erstaunt fragte, ob es regne.
    Er vertilgte zum Kaffeetrinken unseren Wochenendvorrat anBrötchen und kratzte das Honigglas aus. Meine Mutter überspielte ihren Fauxpas, indem sie ihm pausenlos Fragen stellte. »Johann«, begann sie jedesmal, als riefe sie ihn auf.
    Nachdem er sich satt gegessen hatte, zogen wir uns in mein Zimmer zurück, das er mit keiner Silbe kommentierte, ja dessen Bücher- und Bilderpracht (letzteres Leihgaben Veras) er nicht einmal wahrzunehmen schien. Ich fragte, wen er denn in Dresden besuchen wolle – niemanden außer mir. Ob es ein Konzert gebe oder etwas im Theater – nicht daß er wüßte. Einsilbig beantwortete er alle Fragen, schwieg ich, blieb auch er stumm. Ich wußte nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Meine Frage, wo er denn Theologie studieren wolle 154 , entsprang derselben Verlegenheit wie meine anderen Erkundigungen.
    Ich glaubte, er sei meiner Fragerei überdrüssig und blicke mich deshalb so wütend an. Und dann begann Geronimos Monolog. Er formulierte Aussagesätze, intonierte sie jedoch fragend, als erwarte er Widerspruch. Das Leben lohne nicht, wenn der Tod das Letzte sei. »Ohne Ewigkeit«, sagte er, »ist unser Leben sinnlos.«
    Geronimo redete und redete, er schien sich über mich zu empören. Worauf wollte er hinaus? Ich sah nur seine Verzweiflung, die in der Behauptung gipfelte, es sei egal, ob er auf dem Stuhl sitzen bleibe oder sich aus dem Fenster stürze. Ich begriff, daß für ihn Gott und der Sinn des Lebens noch eins waren!
    Mein Achselzucken steigerte seine Ungehaltenheit, er preßte die Lippen aufeinander und sah mich an, als wäre mein Schweigen noch jenes, in das er mich vor drei Jahren hineinmanövrierthatte. Was erwartete er denn von mir? So tat ich das, worauf ich vorbereitet war.
    Ich zog die Schreibtischschublade auf und entnahm meinen Schatz seinem Versteck. Ich war kaum mehr in der Lage, Geronimo zuzuhören. Meine Fingerspitzen

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