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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Lehrer gewesen war. Jörg kam aber nicht weit, weil ihn der Baron unterbrach.Er wolle auch einmal einen Beitrag für unsere Heimatseiten schreiben. Seiner allbekannten Collegemappe entnahm er ein paar Photos, die er zuerst Michaela und Marion reichte. Er hätte gar nichts weiter sagen müssen. Marion wollte sich abwenden, Michaela sah mich an, als vergleiche sie das Photo mit mir. Der Baron erklärte im Plauderton, es handle sich um Photos vom Februar 41. Auf dem Altenburger Markt – im Hintergrund erkennt man die Sparkasse und »Winkler Wurstfabrik mit Dampfbetrieb« – werden einer Frau vor versammelter Meute die Haare abgeschnitten. Ein Photo zeigt sie auf einem Pferdewagen sitzend, umringt von der Menge, vielleicht zweihundert oder dreihundert Schaulustige, vielleicht auch mehr. Auf dem zweiten Photo hat sie noch ein Kopftuch um, das Schild: »Ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen!« berührt ihr Kinn. Auf dem dritten Bild sieht man einen älteren Herrn mit Hut und Brille, wie er ihr das Haar abschneidet. Fachgerecht hat er ihr einen weißen Umhang um den Hals gebunden. Auch auf dem vierten Bild »arbeitet« er. Auf dem fünften ist sie kahlgeschoren. Auf dem sechsten Bild tritt sie ihren Gang durch die Stadt an. Man warf ihr intime Kontakte zu einem Polen vor, ihr Mann war Soldat.
    Er wolle einmal herausfinden, sagte der Baron, wo sie hier gewohnt habe, ob es noch Verwandte gebe. Er habe sich heute mit dem Photo in der Hand zu jener Stelle begeben, wo es passiert sei.
    Es dürfte nicht schwer sein, sowohl den Namen des Friseurs wie auch die näheren Umstände herauszufinden, unter denen sich diese Gaudi – man sehe nur die fröhlichen Gesichter – abgespielt habe. Was wir davon hielten? Wir sollten nach Zeugen fahnden und die Einwohner befragen. Wenn man das Photo vergrößere, werde man die Leute vielleicht besser erkennen. Mit dem Versprechen, uns einen Artikel zu schreiben, sammelte er die Photos wieder ein und verstaute sie sorgfältig.
    »Heimatseite einmal anders«, sagte Michaela und erhob ihr Glas auf den Baron. Überhaupt trank sie viel.
    Plötzlich beugte sich der Baron über den Tisch. »Schauen Sie mal da«, flüsterte er und wies mit dem Kopf in Richtung Eingang. Ich wußte erst nicht, wen er meinte, weil gleich mehrere Leute nach freien Plätzen Ausschau hielten. Eine lange hagere Frau mit spitzem Gesicht und schwarzen Haaren steuerte direkt auf unseren Tisch zu. Der Mann vor ihr reichte ihr gerade bis zur Brust. »Cäsar und Kleopatra«, wisperte der Baron. Die Frisur der Frau hatte tatsächlich etwas Ägyptisches. Im nächsten Moment ergriff der kleine Mann die Lehne eines der freien Stühle und setzte lächelnd zu einer Frage an, als Marion und Michaela losprusteten. Auch ich konnte nicht an mich halten.
    »Bedaure!« rief der Baron. »Wir erwarten noch Gäste.« Das ungleiche Paar blieb stehen, als suchten sie nach einer Erklärung für unser schlechtes Benehmen. Jörg, der am längsten widerstanden hatte, saß vorgebeugt, den Arm auf den Tisch gestützt, die Augen hinter der Hand verborgen. Seine Schultern zuckten. Marion und Michaela glucksten abwechselnd, ich preßte meinen Handrücken vor den Mund.
    »Bedaure sehr«, wiederholte der Baron.
    »Guten Abend«, erwiderte der kleine Mann, weniger erbost als ratlos, worauf Michaela erneut losprustete und wir mit ihr. Es war ein unbändiges Lachen, das mich um so heftiger schüttelte, je entschiedener ich dagegen ankämpfte. Ich wußte nicht, was mit uns geschah. Es gab überhaupt keinen Grund, sich so aufzuführen.
    Der Baron, der mehrmals einen Satz begonnen hatte, doch gegen unseren Dämon machtlos war, entschuldigte sich irritiert, stand auf und verließ unseren Tisch. Kaum hatte er sich ein paar Schritte entfernt, verstummten wir. Sosehr wir uns auch ansahen und belauerten – es geschah nichts.
    Ich fühlte mich armselig und bloßgestellt. Unerträglich ist überhaupt kein Ausdruck für dieses sprachlose Dasitzen. Als hätte der Baron alle Worte kassiert, sie eingesammelt wie Spielkarten. Uns blieb nichts weiter übrig, als auf seine Rückkehr zu warten, damit er sie neu verteile.
    In diesen Minuten schienen wir zu zerstören, was uns aneinander band. Dieses Schweigen zerfraß alles, was wir je füreinander empfunden hatten, es verschlang Respekt, Würde, Vertrauen, Zuneigung, Liebe. Hätte man uns in diesen Minuten gezwungen auseinanderzugehen, es wäre für immer gewesen.
    Unversehens tauchte der Baron wieder auf. Als er sich

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