Neue Leben: Roman (German Edition)
Frühstückstisch ein Kuvert. »Ist es ein Roman?« fragte meine Mutter später. Das war Johanns zweiter Verrat. Er hatte mit keiner Silbe erwähnt, daß er ebenfalls schrieb. Kämpfte Johann heimlich gegen mich?
Das war am Sonntag. Bei einer Fußballübertragung würde man sagen: Wir zeigen Ihnen diese Szenen ungekürzt.
Der Montag hielt eine weitere Hiobsbotschaft für mich bereit.
Der Auflage der Musterungskommission entsprechend, hatte ich mir den Brustkorb röntgen lassen, doch nicht beim Militärarzt, sondern im Friedrichstädter Krankenhaus, in dem meine Mutter arbeitete. Am Montag war der Befund mit der Post gekommen. Ich kam nicht mal auf die Idee, das Latein zu entschlüsseln, und legte den Umschlag auf Mutters Küchenstuhl, wo sie ihn erst fand, als wir uns zum Abendbrot setzten. Haben Sie jemals erlebt, wie in einem vertrauten Gesicht von einem Augenblick auf den anderen der Schädel aufscheint?
»Das kann nicht sein!« flüsterte sie.
»Was kann nicht sein?« war alles, was ich hervorbrachte. Dann wurde mir schlecht. Eine Minute später fragte ich vom Fußboden der Küche aus, wie viele Jahre mir noch blieben.
»Vier oder fünf«, sagte sie, fuhr in ihre Straßenschuhe und rief: »Aber das kann nicht sein! Das kann nicht sein!« Und zog die Wohnungstür hinter sich zu.
Die Kälte des Fußbodens war angenehm. Ich sah die Deckenlampe, in deren Glasschirm sich Dreck angesammelt hatte, und die Therme, in der ein einziges blaues Flämmchen brannte. Es tat gut, Dinge ins Auge zu fassen, die sich mein Leben lang nicht verändert hatten. Vier Jahre! Um die Fenster zu sehen, mußte ich den Kopf drehen. Ich lächelte der abgeschlagenen Ecke des Fensterbretteszu. Vier Jahre! Da hatte ich meine Unausweichlichkeit! Mir blieb Zeit für ein Buch, vielleicht sogar für zwei. War Todesnähe nicht überhaupt die notwendige Voraussetzung schöpferischer Arbeit? Versuchte nicht jeder, sie so oder so vorzutäuschen? Vier Jahre! Ich drückte dieses Urteil an mich, als wäre es ein Versprechen, eine Abmachung zwischen Gott und mir.
Es dauerte fast eine Stunde, bis meine Mutter zurückkehrte. Sie war mit dem Rad die Telephonzellen abgefahren, hatte dann aber niemanden mehr in der Röntgenabteilung erreicht. Sie lächelte und wischte sich mit dem Taschentuch über das gerötete Gesicht. Der Befund sei falsch, ein Irrtum, völliger Nonsens, sonst käme ich kaum noch die Treppen hinauf.
»Hörst Du, Enrico? Das ist unsere Chance! Keine Armee der Welt nimmt dich mehr mit so einem Befund! Das will der Herrgott!« jubilierte sie.
Noch nie hatte sie dieses Wort gebraucht. Mir war nicht nur ihr Herrgott lästig, ich wollte überhaupt allein sein, allein mit den Dingen dieser Welt, die auf einen Schlag mein waren, alle schön, alle wichtig.
Je euphorischer sie sprach – »Mußt nur ein bißchen lamentieren, ein bißchen spielen« –, desto ungehaltener wurde ich. »Entweder verweigere ich, oder ich gehe wie alle anderen!«
Eine Stunde später lief ich an der Elbe entlang, über der Nebel lag. »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«, dröhnte mir Brahms Requiem im Ohr, »und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen!« Wie soll ich diesen Zustand beschreiben? Zwar blieb ich der alte Adam, der sich Geronimo überlegen fühlte, ich erlebte etwas, was mich vor allen anderen auszeichnen würde. Darüber hinaus aber überraschte, nein, überrumpelte mich ein unerwarteter Trost: Ob tot oder lebendig, ich würde auf dieser Erde bleiben. Sterben und verwesen bedeutete nicht, sich in nichts aufzulösen, sondern, wie auch immer, weiter hier,weiter in der Welt zu sein. Dieser Gedanke, der sich wie im Schlaf eingeschlichen hatte, beruhigte mich. Ich will nicht sagen, auf diesem Spaziergang hätte ich die Angst vor dem Tod überwunden, doch so oder ähnlich fühlte es sich an. Alles Schöne war plötzlich schön, alles Schlimme schlimm, alles Gute gut. Für kurze Zeit entkam ich meinem Wahn – und mußte nichts mehr tun! Jeder Zwang, jeder Plan, jedes Kräftemessen fiel von mir ab.
Dienstag früh fuhr ich mit Mutter ins Krankenhaus und ließ mich erneut röntgen. Wieder zu Hause, schrieb ich Geronimo. Es war mein Testament, ein Abschied in vielerlei Hinsicht. Jeder Satz ein Hauptsatz. Ich wünschte ihm Glück, ich wünschte Franziska Glück, lieber hätte ich ihm alles mündlich gesagt, ich war krank, todkrank, aber ich nahm mein Schicksal an, ich wollte es tragen als das mir zugedachte, Schritt um Schritt auf meinem Weg
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