Neue Leben: Roman (German Edition)
glaubte ich, die Verzweiflung eines sensiblen jungen Mannes illustrieren zu können, der einrücken mußte. Für ihn gab es kein Ausweichen, kein Entrinnen, die totalitäre Macht überwachte jeden Schritt. Schließlich saß mein Held zerschlagen und bleich bei einer Tasse Kaffee in der Küche, seine Mutter – wieder eine deutsche Mutter, die ihren Sohn hergeben mußte – umsorgte ihn schweigend, das Gesicht abgewandt, damit er ihre Tränen nicht sah.
Zu Ihrer Erinnerung sei gesagt: Im Herbst 81 stand Polen kurz vor der Verhängung des Kriegsrechts. Von einem Nachbarjungen, der ein Jahr zuvor eingezogen worden war, wußte ich, daß sein Regiment im Sommer mit scharfer Munition ausgerückt war. Selbst der Regimentskommandeur, ein Oberst, hatte Felduniform getragen, und die Offiziere waren von einer nie gekannten Freundlichkeit gewesen. Ihm selbst war die Aufgabe zugewiesen worden, die Hinweisschilder für die nachrückenden Reservisten aufzustellen.
Das war Wasser auf meine Mühlen und beflügelte meine Phantasie. Ich fürchtete, zu spät zu kommen; trotzdem hätte ich gern den Tag der Einberufung hinausgezögert, denn so, wie es jetzt war, gefiel mir mein Leben.
Ende Oktober, etwa zehn Tage vor der Einberufung, geschah etwas völlig Unerwartetes.
Geronimo wollte mich, bevor ich kaserniert würde, wie er sich ausdrückte, noch einmal sehen. Wir hatten uns monatlich besucht. Von Naumburg aus waren wir viel gewandert und mit den Rädern nach Schulpforta oder nach Röcken 170 gefahren.
Die Anspannung jedoch, die ich bei unserem ersten Wiedersehen gespürt hatte, blieb bestehen. Ich sehnte mich nach Geronimo und fürchtete unsere Treffen. Unbeschwert war ich nur, wenn ich ihm schrieb.
Diesmal wollte er nicht vom Bahnhof abgeholt werden, ich sollte ihn zu Hause erwarten. Als es endlich klingelte, stand nicht er da – sondern Franziska! Ich glaubte an ein Wunder! Franziska hatte meine Adresse herausgefunden und war zu mir gekommen. Gott sei Dank brachte ich so lange kein Wort heraus, bis Geronimo hervortrat.
Obwohl sich damit alles geklärt hatte, war ich weniger bestürzt als ungläubig. Ich hatte in Geronimo nie ein Wesen gesehen, für das sich Frauen interessieren würden. Und jetzt Franziska!
Trotz aller Zärtlichkeit zwischen den beiden glaubte ich zunächst an einen Scherz. Benutzte sie Geronimo? Gehörte sie nicht viel mehr zu mir, spätestens jetzt, da sie uns vergleichen konnte? Ihre Gegenwart in meinem Zimmer, ihr unverhofftes Dasein inmitten jener Welt, in der ich von ihr geträumt hatte, ließen für Geronimo keinen Platz.
Anfangs hatte ich, wie man so sagt, nur Augen für sie. Dochsowenig ich Geronimo als Fluchtpunkt jeder Regung, jedes Wortes von ihr akzeptieren wollte, so unvermeidlich war es, ihn irgendwann anzusehen. Und das änderte alles!
Geronimos Lächeln war so selig, daß sein ganzes Gesicht vor lauter Entrücktheit etwas Schafartiges bekam.
Kennen Sie den demütigenden Impuls, zwischen zwei Liebende fahren zu wollen wie der Teufel?
»Johann!« sagte ich wie ein Arzt, der einen Bewußtlosen anspricht. »Johann!«
Ich wollte ihn ohrfeigen, ihm die Brille herunterreißen und zerbrechen, ihn mit der Faust ins Gesicht schlagen, während er weiter blöd lächelte, sich umranken ließ und beim Küssen schmatzte. Make love, not war! »Johann!« Er hörte mich nicht einmal mehr! Fremd und verlassen hockte ich neben den beiden im eigenen Zimmer.
Als er mich bat, mit Franziska bei uns übernachten zu dürfen, machte es mir schon nichts mehr aus, ihm das ohne Begründung abzuschlagen. Ich bot ihm an, allein und bei mir auf der Luftmatratze neben meinem Bett zu schlafen.
Sie blieben zum Abendbrot und hielten sich selbst beim Essen an den Händen. Meine Mutter bestand darauf, jedes Detail ihrer ersten Begegnung zu erfahren. Und auch die beiden wollten über nichts anderes reden, erfaßt von unerträglicher Erzähllust.
Warum aber störte sich niemand daran, daß ich schwieg, auf meinen Teller starrte, vollkommen versteinert. Sie hatten mich bereits aus ihrer Gesellschaft getilgt. Es war nicht nur der brutale Egoismus der Liebenden, nein, sie alle hier probten bereits das Leben ohne mich.
Ich konnte von Glück reden, daß meine Mutter die beiden nicht zum Übernachten einlud. Mir fällt nicht mal mehr ein, wie wir uns verabschiedet haben.
Johann hatte mich in einen Hinterhalt gelockt, er hatte mich verraten! Und ich winselte seinen Namen ins Kopfkissen!
Am nächsten Morgen fand ich auf dem
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