Neues Glück für Gisela
Knabenheimleiter, der plötzlich in ihr dieses Verantwortungsgefühl weckte, das sie vorher nicht besessen hatte?
Zum Knabenheim, ja, da fühlte sie sich hingezogen, da, fühlte sie, konnte sie nützlich sein. Tausendmal lieber das Knabenheim als die Schule!
Wenn sie dies zu Willi Stranden gesagt hätte, was würde er wohl geantwortet haben?
Mit einem Male hörte sie in ihrem Innern seine Stimme, so deutlich, als ob er an ihrer Seite säße und zu ihr spräche: Wenn man eine Arbeit übernommen hat, muß man alles einsetzen, um sie zu bewältigen. Nehmen Sie sich doch vor, eine gute Lehrerin zu werden. Versuchen Sie es!
Ja, das würde er gesagt haben. Aber was er in Wirklichkeit gesagt hatte, daran zu denken war doch besser und netter: „Glauben Sie nur nicht, daß Buben im Alter von zwölf bis vierzehn keine Liebe brauchen…“
Oh, wenn sie nur ihre aufgesparten Liebeskräfte den großen und kleinen Buben auf Siebeneichen geben könnte!
Dann lächelte Gisela. Denn das letzte, was er gesagt hatte, hatte ein Licht in ihr entzündet: „Ich glaube, daß gerade Sie der Mensch sind, den wir so nötig haben!“
Einladung zum Abendessen
Frau Ryssel las Giselas Brief nochmals langsam durch, und dann reichte sie ihn ihrem Mann: „Was hältst du davon, Marius?“
Herr Ryssel nahm den Brief, las ihn, reichte ihn seiner Frau mit einem Lächeln zurück, nahm seine Brille ab und putzte sie.
„Tja, vor allem ersehe ich daraus, daß unser Mädel etwas gefunden hat, worin es mit Leib und Seele aufgeht. Es ist ein froherer Ton in diesem Brief als je zuvor. Gott sei Dank.“
„Die Nähmaschine“, sagte Frau Ryssel. „Die Nähmaschine und die Bilder aus dem Kinderzimmer und alles Zeug, das wir beschaffen können!“
„Ja, Gott bewahre, schicke nur alles, was du auftreiben und sammeln kannst“, antwortete ihr Mann. „Ich muß ehrlich einräumen, daß ich dabei weniger an die Kinder in diesem Knabenheim denke als an unser eigenes Kind. Es ist deutlich zu merken, daß es endlich etwas gefunden hat, was sein Dasein ausfüllt. Und es könnte sich wahrhaftig für Schlimmeres interessieren als für verwaiste Kinder.“
„Es steht nichts davon drin, daß die Kinder verwaist sind.“
„Nun ja, dann Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen. Es hat den Anschein, als ob dieses Knabenheim ihr ein und alles geworden wäre.“
„Und das ist alles, was du aus dem Brief herausgelesen hast?“ fragte Frau Ryssel.
„Ja, hast du mehr entdeckt?“
„Ich kann auch zwischen den Zeilen lesen, weißt du“, lächelte sie.
„Du meinst… den Heimleiter?“
„Ich habe so meine eigenen Gedanken“, sagte Frau Ryssel, stand auf und gab ihrem Mann einen kleinen Klaps auf die Wange. „Du wirst ja sehen, ob ich nicht recht habe. Brauchst du heute den Wagen noch, Marius? Sonst würde ich ihn gerne nehmen, um dann die Sachen für Gisela zur Bahn zu bringen.“
Als Gisela wieder einmal eine Kiste von daheim auspackte, bekam sie leuchtende Augen und rote Backen vor Freude. Mama war einmalig. Himmel, und wieviel sie wieder zusammengebracht hatte! Das würde Arbeit für Tante Marthe geben, aber nun würde ihr alles leichter von der Hand gehen, denn sie bekam jetzt Giselas Nähmaschine geliehen, die leichte, elektrische Koffermaschine.
Ob sie nicht besser die ganze Herrlichkeit in ein Taxi packen und am Nachmittag nach Siebeneichen hinausfahren sollte?
Ob sie durch Rolf Bescheid geben sollte, daß sie kam? Oder…
Aber das war gar nicht nötig, denn Rolf überbrachte ihr vor Schulbeginn einen Brief.
„Liebes Fräulein Ryssel, die Köchin hat heute Kuchen gebacken, außerdem brauchen wir guten Rat und weibliche Augen und eine helfende Hand, um die Vorhänge aufzumachen. Haben Sie Zeit, zu kommen? Es würde die Jungen freuen und Ihren Willi Stranden.“
Es kostete Gisela nur sehr wenig Zeit, ein paar Zeilen aufs Papier zu werfen, die Rolf dann mit heimnahm.
„Nein, nicht so hoch, Herr Stranden, etwas niedriger. Diese Vorhänge sind für niedrigere Fenster berechnet. Ja, so, sehen Sie, es geht, sie reichen gerade bis zum Fensterbrett. Nein, etwas weiter nach rechts. Bitte, lassen Sie lieber mich auf die Leiter.“
Gisela kletterte auf die Leiter, maß ab und probierte. Willi Stranden befestigte dann Schrauben und Stangen nach ihren Anweisungen. Rolf war auch dabei, er war der Handlanger. Oh!
Das Zimmer war nicht wiederzuerkennen. Die leichten, kleingemusterten Vorhänge gaben ihm ein ganz anderes, ein freundliches,
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