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Neues Glück für Gisela

Neues Glück für Gisela

Titel: Neues Glück für Gisela Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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Zwischenstation. In einer halben Stunde würde sie in Hoyfoss ankommen. Hoyfoss war die Stadt, in der sie nun ein neues Leben beginnen sollte.
    Sie schaute aus dem Abteilfenster. Ein Bauer schleppte schwere Milchkübel an den Zug. Ein Bahnbeamter rannte mit einem Zettel in der Hand zum Zugschaffner, um einen Bescheid zu geben. Ein paar Leute stiegen aus.
    Dann plötzlich wurde die Tür ihres Abteils aufgerissen. Ein kleiner Junge kletterte herein mit zwei Eimern voller Blaubeeren und bewegte sich schwer und langsam. Das eine Bein war offenbar kürzer als das andere. Als er die Beereneimer auf den Boden gestellt hatte, ließ er sich in die Polster fallen, so wie einer, für den das Gehen mühsam ist und der es als unendliche Erleichterung empfindet, sitzen zu können. Stoßend und rüttelnd setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
    Der Junge sah sich flink im Abteil um, seine blauen Augen leuchteten wach und klug unter einem hellen Haarschopf. Seine Kleider waren abgetragen und geflickt, die Joppe an den unglaublichsten Stellen gestopft. Giselas Augen hingen an dem blassen, schmalen Gesicht. In den Augen des Jungen war etwas, das eine weit über seine Jahre hinausgehende Intelligenz verriet. Sein Alter schätzte sie auf höchstens zwölf Jahre. Eine hohe Stirn, ein kleiner Wirbel am Scheitel – es war etwas rührend Kindliches und zugleich Erfahrenes, Erwachsenes in dem kleinen Gesicht.
    Sie fühlte sich von ihm merkwürdig angezogen und wollte so gern mit ihm reden, seine Stimme hören. Sie wollte wissen, wie er hieß, wie alt er war. Aber sein Gesichtsausdruck hielt sie davon ab, mit ihm ein Gespräch zu beginnen. Oh, vielleicht ließ sich durch die Beeren ein Gespräch anknüpfen? Sie lagen tiefblau, frischgepflückt und glänzend in den beiden Blecheimern.
    Plötzlich war es der Junge, der zuerst sprach. Er sah sich im Abteil erneut um, wurde rot und sagte dann: „Das ist hier wohl erste Klasse?“
    „Ja“, nickte Gisela und fügte hinzu: „Aber das macht sicher nichts. Hier auf diesen kleinen Strecken nimmt man das wohl nicht so genau.“ Der Junge sah sie unsicher an, schwieg aber. „In dieser Gegend scheint es viele Beeren zu geben“, begann Gisela von neuem.
    „Ja-“
    „Deine Mutter wird sich freuen über die vielen Beeren, die du gepflückt hast.“ Jetzt wandte sich der Junge mit einem Ruck nach ihr hin. In seinen Augen lag eine unbestimmte Trauer. Aber er sagte nichts.
    Gisela sprach weiter; beinahe hektisch. Sie klammerte sich förmlich an diesen Jungen, an die Möglichkeit, mit einem anderen, einem fremden Menschen reden zu können, um von ihren eigenen Gedanken abgelenkt zu werden.
    „Ja, da muß sie doch froh sein. Denk an all die gute Marmelade, die sie daraus machen kann.“
    Stille.
    „Sind Sie denn sicher, daß ich eine Mutter habe?“ sagte der Junge.
    „Oh!“ flüsterte Gisela und dann schwieg sie. Sie erhob sich und ging in den Korridor, floh aus dem Gesichtskreis des Jungen. Es gelang ihr, den Schaffner zu erwischen, ehe er ihr Abteil betrat.
    „Schaffner, in meinem Abteil sitzt ein kleiner Junge mit einer Fahrkarte zweiter Klasse. Ich möchte gern den Zuschlag für ihn bezahlen, aber bitte sagen Sie nichts zu ihm.“
    Der Schaffner besah sich die Fahrkarte des Jungen, ohne ein Wort zu sagen. Dann schrieb er die Karte für den Zuschlag aus, und Gisela bezahlte auf dem Gang.
    Als sie in ihr Abteil zurückging, sagte sie: „Du mußt entschuldigen, wenn ich vorhin taktlos war, ich habe es nicht so gemeint.“
    „Das ist okay“, antwortete der Junge.
    Dann versickerte das Gespräch. Sie schwiegen vor sich hin. Aber Giselas Gedanken kamen von dem Buben nicht mehr los. Da bemerkte sie, daß sich seine Augen an eine der Illustrierten auf dem Tischchen hefteten. Sie folgte der Richtung seines Blickes. Es war ein populärwissenschaftlicher Artikel mit Fotos von einem Raumschiff.
    „Hast du Lust zum Lesen?“ fragte Gisela und reichte ihm das Blatt. „Ich kenne es schon und nehme es nicht mit. Behalte es nur.“
    „Danke“, sagte der Junge und nahm das Blatt an sich. Das kleine Wort klang höflich, aber es riß die Scheidewand zwischen ihnen nicht nieder. Gisela wunderte sich, daß ein Kind so merkwürdig kühl und distanziert sein konnte.
    Der Junge las. Er las mit hungrigen Augen, gierig. Las so, daß er nicht merkte, wie der Zug die Fahrt verlangsamte.
    „Du mußt jetzt aussteigen“, mahnte Gisela, „denn nun sind wir hier in Hoyfoss. Du hattest doch eine Karte bis Hoyfoss.“

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