Neues Glück für Gisela
Der Junge schaute verwirrt auf.
„Oh, das habe ich gar nicht bemerkt“, sagte er dann, und nun hatte seine Stimme einen ganz anderen Klang, warm und froh. Seine Wangen bedeckte eine feine Röte, und Gisela fand das kleine Gesicht jetzt beinahe hübsch.
Noch ganz freudig erregt und etwas benommen vom Lesen, kehrte der Junge in die Wirklichkeit zurück. Er sprang etwas mühsam auf, ergriff flink seine Beereneimer und kletterte aus dem Abteil mit einem kurzen „Guten Tag“. „Komm gut heim!“ rief sie ihm nach. Er sah sich verwundert nach ihr um und ging dem Ausgang zu. Gisela nahm ihre Koffer von der Gepäckablage und verließ ebenfalls ihr Abteil. Auf dem Bahnsteig bemerkte sie zwei größere Jungen mit Fahrrädern, die dem kleinen Beerenleser zuwinkten: „Hallo, Rolf! Sagten wir nicht, daß wir zuerst hier sein würden?“
„Da habt ihr aber toll gestrampelt!“ antwortete dieser. Nun war seine Stimme laut und froh und jungenhaft. „Gut, daß wir nicht gewettet haben.“
„Schmeiß deine Beereneimer her. Wir nehmen sie für dich mit zum Bus.“
„Fein“, sagte Rolf, und die Kameraden nahmen ihm die Beereneimer ab.
Als Gisela später im Taxi saß, das sie zu der Pension bringen sollte, in der sie die erste Nacht in Hoyfoss zu bleiben gedachte, sah sie Rolf wieder. Er stand an der Bushaltestelle, die beiden Eimer voll Beeren neben sich, und winkte den Kameraden, die ihre Räder bestiegen.
Gisela kurbelte rasch die Scheibe herunter, sie wollte ihm noch winken. Aber er sah sie nicht. Sein lächelndes Gesicht war den beiden Kameraden zugewandt, und er schrie gerade mit einer etwas schrillen Jungenstimme: „Diesmal wette ich, daß ich der erste bin, denn jetzt höre ich schon den Bus kommen.“
Dann war Gisela an ihm vorbeigefahren.
Gisela lag in ihrem Bett in der Pension von Hoyfoss.
Es war still um sie herum. Sie war müde und versuchte sich zu entspannen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Die Gedanken kehrten wieder, zum tausendsten Male. Dieselben quälenden Gedanken, die im Zug unterbrochen worden waren durch einen kleinen, verschlossenen, lahmenden Jungen mit nachdenklichen blauen Augen und hellem Schopf. Einen Jungen, der wissensgierig über Raumfahrt las.
Jetzt gruben die Gedanken wieder und wieder in derselben Spur. Die Hochzeitsvorbereitungen, glückliche Familienabende, bald bei Giselas Eltern, bald bei den Schwiegereltern. All die Einkäufe, die Stadtfahrten in ihrem kleinen neuen Auto, das sie so gern fuhr. Die Sonntagsausflüge mit Andreas. Bis zu dem Tag…
Sie hatte in ihrem Wagen Papa nach Oslo gebracht, zum Flughafen, er mußte eine kurze Geschäftsreise nach London machen. „Fahr nun vorsichtig zurück, mein Kind!“ waren Papas Abschiedsworte.
Natürlich würde sie vorsichtig fahren. Sie war eine sichere Autofahrerin.
Sie sah das andere Auto von rechts kommen, aber sie war ja auf einer Vorfahrtsstraße, sie durfte schon weiterfahren.
Sie hatte vergessen sich anzuschnallen, na, bei der nächsten Gelegenheit würde sie halten und das in Ordnung bringen…
Dachte denn der Mann da rechts nicht daran zu halten?
Sie mußte im letzten Augenblick ganz scharf bremsen, der Wagen rutschte auf der feuchten Straße – rutschte rüber auf die andere Straßenseite… eine Sekunde in wilder, verzweifelter Angst, sie hörte quietschende Bremsen, sie merkte einen schrecklichen Stoß – dann einen wahnsinnigen Schmerz. Und dann wußte sie nichts mehr.
Als sie zu sich kam, lag sie auf einer Bahre in einem Krankenwagen, der sie mit Blaulicht zum nächsten Krankenhaus brachte.
Spritzen, Narkose, eine barmherzige Bewußtlosigkeit.
Mama am Bett. Mama hielt ihre Hand, als sie nach der Operation aufwachte.
„Mama, was ist mit mir?“
„Du bist operiert worden, mein Schatz.“
„Operiert – ja, ja, ich weiß… das Auto…“
„Mach die Augen zu, Kind, ich bin bei dir. Alles ist jetzt vorüber, du sollst nur ruhen und dich erholen.“
Es dauerte Tage, bis sie ganz zu sich kam und mit der Mutter sprechen konnte. Mama war immer bei ihr. Gisela wußte nicht, wieviel Tränen über Mamas Wangen gerollt waren in den vielen Stunden, wo sie selbst schlafend dagelegen hatte.
Gisela war in reichen Verhältnissen aufgewachsen. Sie dachte gar nicht darüber nach, daß es anders sein könnte. Jetzt lag sie in einem hübschen Einbettzimmer auf der Privatstation, und Mama durfte bei ihr sein. Sie hatte keine Krankenhauserfahrung, außer der, daß sie ein paarmal Verwandte und Freundinnen im
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