Neues Glück für Gisela
sie lächelnd, aber Worte wurden nicht gewechselt. Die Jungen verringerten das Tempo, als sie hinter ihr hergingen. Und dann hörte sie ein kicherndes Flüstern hinter sich: „Nein, aber nein, was für ein feines Messerlein du hast, Peterle!“
Unterdrücktes Gelächter. Der, welcher geflüstert hatte, wiederholte den Satz, angefeuert durch seinen Erfolg.
„Sieh mal, guck, so ein feines Messerlein hat der süße, kleine Peterle. Sei nur bloß vorsichtig, Peterchen, damit du deine süßen kleinen Fingerchen nicht verletzt!“
Es wurde diesmal mutiger, lauter gesprochen. Giselas Wangen brannten, und Tränen drängten sich aus den Augenwinkeln hervor.
Es war nur allzu klar, womit die Buben ihren Spott trieben. Es war ihr Versuch, ein freundliches Interesse zu zeigen.
Es schmerzte sie, denn sie mußte betrübt erkennen, daß ihre Freundlichkeit weggeworfen war und daß es ihr nicht gelingen würde, den Kontakt mit den Kindern zu bekommen, den sie so gern haben wollte.
Mußte sie wirklich innerlich verbrennen mit all ihrer unverbrauchten Liebeskraft? Sollte die Grundlage ihres neuen Daseins wanken, ehe sie darauf aufbauen konnte? Was sollte denn ihr einsames Leben ausfüllen, wenn es nicht die Arbeit und die Kinder taten?
Gisela war traurig.
Dann hatte Rolf wieder einmal eine Freistunde und saß im Klassenzimmer mit seinem Zeichenheft. Gisela korrigierte wiederum Aufsatzhefte und versuchte nicht, ein Gespräch anzuknüpfen. Aber oft fielen ihre Blicke auf den blonden Bubenkopf und die dünnen Hände, die den Bleistift hielten. Sie hatte auch heute Schokolade in ihrer Tasche. Sie hatte sie gekauft, weil sie wußte, daß heute Rolfs Freistunde war.
„Möchtest du ein Stückchen Schokolade, Rolf?“
Er blickte auf, die hellen, klugen Augen waren einen Augenblick auf die Lehrerin gerichtet, kühl, abschätzend. „Nein, danke!“ sagte Rolf.
Dann beugte er sich wieder über das Zeichenheft.
Alles kam ganz anders
Gisela hatte geradezu einen „Vogel“, was Rolf betraf, um es unverblümt auszudrücken.
Es war etwas in seinem Gesicht, das sie fesselte. Rolfs magere kleine Gestalt, seine Lahmheit, die abgetragenen, geflickten Kleider, die spartanischen Frühstücksbrote – all das weckte ihr Mitleid, appellierte an ihr allzu weiches Herz. Es wurde beinahe eine fixe Idee bei ihr: sie mußte etwas für Rolf tun.
Ein Waisenhausjunge! Das Wort schmerzte sie im Innern. Sie erinnerte sich an all die Bücher, die sie über Waisenkinder gelesen hatte, angefangen von „Jane Eyre“ bis zu „Gottes blindes Auge“. Sie brannte darauf, etwas für Rolf zu tun, ihm eine wirkliche Freude zu bereiten.
Aber wie sollte sie es anstellen? Er hatte sie höflich ablehnend auf ihren Platz verwiesen, als sie ihm die Schokolade anbot. War es möglich, daß es so viel Stolz in einem kleinen Jungen gab? War dies seine Art, sich des Mitleids zu erwehren?
Nein, wenn sie etwas für Rolf tat, mußte es so geschehen, daß er sich dadurch in keine Sonderstellung versetzt fühlte. Sie mußte irgend etwas für die ganze Klasse tun, all den kleinen Räubern eine Freude machen.
Sie dachte nach und überlegte. Eine Party für sie geben? Aber wie würde die wohl ausfallen, wo doch die Jungen ihr gegenüber so kühl waren? Und wenn sie ihnen all die guten Sachen auftischte, die ihre Eltern sicher auf das erste Wort von ihr hin schicken würden, ja, das würde schon ein Erlebnis für die Jungen sein, aber es würde neue Kritik herausfordern. Viele bittere „Ja, wer kann, der kann“ würden in den verschiedenen Häusern zu hören sein.
Gisela war ängstlich und vorsichtig geworden.
Aber eines Tages kam ihr eine Idee. Als sie an dem einzigen, kleinen Kino der Stadt vorbeiging, sah sie, daß „David Copperfield“ auf dem Programm stand. Sie kannte den Film, hatte ihn vor vielen Jahren daheim gesehen, David Copperfield mit Freddy Bartholomew – und gerade jetzt hatten sie einen Auszug von dem Buch in der Schule gelesen.
Sie überlegte. Man müßte alle dreißig kleinen Räuber ins Kino einladen. Den Jungen von dreizehn, vierzehn Jahren wollte sie sehen, der keine Lust hatte, ins Kino zu gehen. Dann wollte sie allen dreißig eine Tafel Schokolade zustecken. Da konnte keiner nein sagen, auch Rolf nicht, und für ihn war es bestimmt ein großes Erlebnis, ins Kino zu kommen.
Die Jungen nahmen die Einladung verwundert an, aber dann siegte doch die Freude über Erstaunen und Skepsis, und sie versprachen, morgen um zehn Minuten vor 17 Uhr
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