Neues Glück für Gisela
Siebeneichen nicht mehr vorstellen.
Sie wollte und mußte zurück. Auf Biegen oder Brechen.
Dann stand sie in ihrem Vorzimmer, mit dem Brief in der Hand. Sie sah sich die Handschrift an.
Sie zog sich nicht aus, ging geradewegs in ihr Wohnzimmer, machte Licht, und mitten darunter öffnete sie den Brief mit bebenden Händen.
„Liebe Gisela, es ist nicht das erstemal, daß ich mich Dir gegenüber verrannt habe, und auch nicht das erstemal, daß ich um Entschuldigung bitten muß. Aber ich hoffe, es wird das letztemal sein.
Ich habe mich Dir gegenüber pöbelhaft aufgeführt und ich schäme mich, mehr als ich sagen kann. Kannst Du mir vergeben, Gisela, und willst Du wieder zu uns kommen? Wir können Dich gar nicht entbehren. Ich bin wohl ein schwieriger Mensch, und es ist nicht leicht, mit mir zu tun zu haben. Du mußt versuchen, Geduld für mich aufzubringen. Aber Du darfst mir glauben, wenn ich sage, daß ich eine warme Freundschaft für Dich fühle. Ich bitte Dich, unsere gute Kameradschaft fortzusetzen. Und falls Probleme auftauchen sollten, wollen wir sie als Freunde in aller Ruhe besprechen. Ich gelobe, daß ich alles tun werde, um solche Szenen in Zukunft zu vermeiden. Vergib mir, Gisela. Ich habe keine andere Entschuldigung als die – nun ja, daß es manchmal schwierig ist, ich zu sein.
Dein Willi.“
Gisela las den Brief wieder und immer wieder. Sie fühlte keine berauschende Glückseligkeit, keine überströmende Freude, nur eine große, stille Ruhe.
Sie nahm ihren Mantel ab, drehte die Zentralheizung auf, schaltete den elektrischen Heizofen an. Dann ging sie an den Schreibtisch.
„Lieber Willi,
ich habe eben deinen Brief bekommen, war verreist und bin erst vor einer Stunde zurückgekehrt.
Vielen Dank dafür, daß Du geschrieben hast. Ja, ich verstehe Dich und vergebe Dir, aber Du mußt mir auch vergeben und nachsichtig sein mit meiner Hauptschwäche, nämlich der, manchmal zu spontan und unüberlegt zu handeln. Ich will versuchen, mich zu bessern. Über einen Satz Deines Briefes habe ich mich schrecklich gefreut: Du sagst, Ihr braucht mich. Ich brauche Euch auch. Laß mich also weiterhin Eure Tante Gigi sein und laß mich auch bleiben Deine Freundin Gisela.“
Gisela versiegelte den Brief. Es war drei Uhr nachts, als sie den Mantel anzog, auf Zehenspitzen die Treppe hinunterschlich und bis an die Ecke zum Briefkasten ging-
Es tat wohl, wieder im eigenen Bett zu liegen. Ach so gut, die Ruhe ringsum zu fühlen.
Ja, jetzt war alles gut.
Mit Rolf auf Reisen
Jetzt hatte sich Gisela wiedergefunden.
In der folgenden Zeit behielt sie die stille Ruhe, die an dem Abend ihrer Heimkehr über sie gekommen war, damals, als sie Willis Brief fand. Aber das war eine erkämpfte Ruhe, eine vernunftgeborene Ruhe, die mit Resignation verwandt war.
„Ich weiß, daß es nie anders sein kann“, hatte Gisela sich selbst gesagt. „Es nützt nichts, sich eine süße Spannung und einen Roman auszumalen. Willi ist mein Freund, wir sind Kameraden und haben es nett zusammen. Anders kann es nie werden, und ich muß froh sein um das, was ich habe.“
Und den Gedanken, der tief in ihrem Innern spukte, daß Willi sich eines Tages verheiraten und eigene Kinder bekommen könnte, diesen Gedanken begrub sie ganz in ihrem Unterbewußtsein. Das war etwas, woran sie doch nichts ändern konnte.
„Ich will glücklich sein mit dem, was ich habe“, sagte sich Gisela, „und will nicht an das denken, was vielleicht kommen kann. Wenn es kommt, kommt es eben, gegen Unvermeidliches nützt es nichts, zu kämpfen. Aber was auch immer geschieht, Rolf soll mir niemand nehmen, er ist mein Junge.“
Auf dieser Basis nahm sie ihr Zusammensein mit Willi und die häufigen Besuche auf Siebeneichen wieder auf. Sie hatten es sogar netter zusammen als je zuvor. Wenn Gisela ab und zu eine Idee für eine Veränderung oder Verbesserung hatte, schlug sie sie Willi vor, und sie besprachen die Sache ruhig und freundschaftlich. Mit Rolf besah sie sich oft und gern den Kaninchenstall und liebkoste die „Augusta“, die bei der guten und liebevollen Pflege prachtvoll gedieh.
Auch in ihrer Schule arbeitete sie ruhig und systematisch. Sie war ehrgeizig, sowohl für sich selbst als für die Klasse. Sie hatte Freude an ihrer Arbeit und war sich klar über den Grund hierfür. Es war Willi, der sie gelehrt hatte, wie man mit dreizehn- und vierzehnjährigen Jungen auf eine nette, herzliche, aber gleichzeitig ganz unsentimentale Weise
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