Neues Glück für Gisela
vor dem Kino zu sein.
Gisela hatte ein solches Herzklopfen, als ob sie zu einem Stelldichein sollte.
Sie war zeitig dort und sah sie daherkommen – zu dritt, zu zweit, eine Schar von fünf – noch ein Häuflein. Jeder Bub bekam eine Eintrittskarte und eine Schokoladentafel in die Hand gedrückt. Da kam auch Peter und bekam seinen Teil – Gisela war immer sehr kurz und sachlich gegenüber Peter, seit der Geschichte mit „süßer kleiner Peterle und dem feinen Messerlein“. Zum Schluß war nur noch eine Eintrittskarte übrig. Es war Rolf, der fehlte.
Es war nun 17 Uhr, aber Gisela stand noch da und wartete. Sie schaute die Straße hinauf, hinunter, reckte ihren Hals. Nein, kein Rolf war zu sehen.
Sie stand da, mit der Karte und der Schokolade in der Hand und fühlte, wie die Enttäuschung in sie hineinsickerte.
Die letzten Kinobesucher waren an ihr vorbeigehuscht. Gisela stand allein vor dem Kinoeingang.
Die Uhr zeigte 17.30 Uhr, als sie sich in das dunkle Kino hineintastete, klein und armselig, mit einer halbgeschmolzenen Schokoladentafel, die sie in ihre warme Hand geklemmt hatte.
Gott sei Dank, die Jungen waren von dem Film begeistert. Sie hörte sie in der Pause davon reden. Sie fühlte fragende, interessierte Augen auf sich gerichtet. Das war einmal ein „Fräulein“, das gleich die ganze Klasse ins Kino einlud! Ein wenig Prahlerei fing sie auf von einigen „ihrer“ Buben, aber die vorwiegende Reaktion war schweigende Verwunderung.
Es war vielleicht recht gut, daß Gisela am folgenden Tag nicht die Äußerungen eines Jungen aus einer Parallelklasse hörte: „Pah, unser Fräulein ist viel netter, die hat es nicht nötig, uns ins Kino einzuladen, um sich bei uns einzuschmeicheln.“
Vielleicht dachten auch Giselas Jungen im Grunde so, aber sie gaben dem nicht Ausdruck, denn sie fühlten sich doch gewissermaßen solidarisch mit ihrem Fräulein, mit dem sie zwar nicht gerade in Kontakt waren, das ihnen aber immerhin dieses Vergnügen verschafft hatte.
Ihre Bubenehre verbot ihnen, abfällig über jemand zu sprechen, dessen Gastfreundschaft sie genossen hatten.
Derartige Züge bewirken, daß man dreizehnjährige Lausbuben liebgewinnen kann.
Es war erst später, am Vormittag des nächsten Tages. Gisela brachte es über sich, im Vorbeigehen ein paar Worte zu Rolf zu sagen: „Na, Rolf? Du warst ja gestern nicht im Kino?“
„Ich konnte nicht kommen“, sagte Rolf, und das war alles.
Aber später fing Gisela ein paar Worte von einem anderen Jungen auf. Er brummte etwas wie: „Nein, Rolf hatte ja Stubenarrest, also…“
Jedenfalls faßte sie deutlich das Wort „Stubenarrest“ auf.
Das Blut stieg ihr in die Wangen. So also wurden die Kinder im Knabenheim Siebeneichen behandelt. Natürlich war es die Strafe für eine Bagatelle, es war sicher ein Mißverständnis. Dieser ruhige, brave, kluge Junge hatte bestimmt nichts Unrechtes getan. Da war sicher so ein Despot, ein tyrannischer Heimleiter, ein grantiger alter Kerl, der keine Ahnung hatte von der Mentalität eines gesunden Jungen.
Je mehr sie daran dachte, desto wütender wurde sie. Das alte, echte Rysselblut fing an, in ihren Adern zu kochen. Viele Generationen von den Ryssels hatten immer vermocht, ihren Willen durchzusetzen. Die Ryssels waren es, die daheim in Ravensund den Ton angaben und Anordnungen trafen, und wenn ein Ryssel wußte, daß er im Recht war, dann ließ er sich von keinem anderen auf die Zehen treten, da sagte er seine Meinung und dies so deutlich, daß keine Möglichkeit eines Zweifels für den Gegner bestand.
Man fügte sich den Ryssels gegenüber.
Dieser Familienzug der Unbeirrbarkeit und die Überzeugung der Unfehlbarkeit der eigenen Ansichten loderten in Gisela hoch und trieben sie dazu, nach dem Mittagessen ihr Rad hervorzuholen, um den langen Weg nach Siebeneichen zu fahren, wütend und zielbewußt.
Kleiner Rolf, lieber kleiner Rolf! Sie, Gisela Ryssel, die Tochter des Großkaufmanns Marius Ryssel in Ravensund, sie würde die Sache mit Rolf schon in Ordnung bringen. Nicht nur für Rolf, sondern für alle anderen kleinen Jungen mit geflickten Hosen und Joppen, aus denen sie herausgewachsen waren, alle die kleinen Buben, die unter einem tyrannischen Heimleiter litten.
Gisela trat die Pedale, daß es in den Beinmuskeln knackte, und die Wut kochte in ihr.
Siebeneichen war ein großes, altmodisches Holzhaus. So ein richtiges altes Haus in verwaschener brauner Farbe, mit Schweizer Veranda, spitzen Giebeln und hohen,
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