Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neukölln ist überall (German Edition)

Neukölln ist überall (German Edition)

Titel: Neukölln ist überall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Buschkowsky
Vom Netzwerk:
Engagement für die jungen Leute. Dabei half ihr ihr übersprudelndes Temperament. In ihrer gefühlten Rolle als Sozialarbeiterin und ihrer Profession der gefürchteten »Richterin Gnadenlos«. Wer sie wie ich kannte, konnte über diese Bezeichnung nur lachen. Obwohl, wer nicht hören wollte, ganz schnell einfuhr. Und wer das Bußgeld fürs Schulschwänzen angeblich nicht bezahlen konnte, der fing sich schon mal einen Haftbefehl ein.
    Ihr tragischer Tod war für mich ein Tiefschlag. Ich hätte sie gerne weiter als meine Ratgeberin zur Seite gehabt. Das Leben hat die Geschichte leider anders zu Ende erzählt.
    Ihr Credo ist geblieben. Kirsten Heisig forderte: früher, schneller, konsequenter eingreifen. Sie schuf das Neuköllner Modell: Straftaten mit einfacher Beweislage (wenn also entweder ein Geständnis vorliegt oder das Gericht maximal drei Zeugen benötigt), bei denen höchstens ein Monat Jugendarrest zu erwarten ist, werden innerhalb von drei Wochen zum Abschluss gebracht. Sie hat mit aller Kraft dafür gekämpft, aber ist ihr wirklich der Durchbruch gelungen? Ja, formal schon. In Berlin ist das Neuköllner Modell inzwischen stadtweit eingeführt. Im Jahre 2008 wurden 61 Fälle nach diesem Modell abgearbeitet. Im Jahr 2009 dann 87 Fälle, 123 im Jahre 2010 und 57 in 2011. Zur Erinnerung, wir hatten 2660 Jugendstraftaten in Neukölln in 2011. Also gerade 2   % aller Vorfälle haben den Weg ins Neuköllner Modell gefunden. Außenstehenden mag das wenig erscheinen. Aber meine Gesprächspartner sind dennoch nicht unzufrieden. Sie verweisen darauf, dass es auch bei der Diversion, also der Erledigung eines Verfahrens ohne richterliche Beteiligung, mehrere Jahre gedauert hat, bis sie Routine im polizeilichen Alltag wurde. Die Schulungen für die Polizei laufen weiter. Richter werden sogar von Rechtssprechungsaufgaben freigestellt, um Polizisten fit zu machen für das Neuköllner Modell. Vor allem aber sehen die Fachkräfte seinen Vorteil darin, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht mehr übereinander, sondern miteinander reden – und das am konkreten Fall.
    Früher gab es in den Polizeiabschnitten Jugendsachbearbeiter. Das waren Beamte, die nur auf Vorgänge mit und um Jugendliche spezialisiert waren. Diese Funktion ist dem Allzuständigkeitsprinzip zum Opfer gefallen. Kirsten Heisig wollte, dass sie wieder eingeführt wird. Ich glaube auch, dass es sinnvoll wäre, so zu handeln. Sie hat es nicht mehr erlebt. Im Moment scheint es aber so, als gäbe es bald wieder zumindest einen »Jugendsachbearbeiter light«. Jemanden, der diese Aufgabe mit übernimmt. Besser als gar nichts.
    Auch einen zweiten Kampf hat Kirsten Heisig nicht siegreich beenden können: die Regionalisierung der Staatsanwaltschaft. Wie in Rotterdam sollte es örtlich zuständige Staatsanwälte geben, die ihre Klientel und deren soziales Umfeld kennen und möglichst auch vor Ort im Bezirk arbeiten. Doch dagegen wehrt sich die Berliner Staatsanwaltschaft bis heute erfolgreich mit Händen und Füßen. Die Staatsanwälte wollen nicht weg aus ihren Gemäuern. Sie wollen den Schutz der Herde nicht aufgeben, um vor Ort transparent und nachprüfbar zu sein. Und sie wollen auch nicht weg von der Zuordnung nach Buchstaben oder Eingängen. Sie wollen einfach nicht regionalisiert werden. Und damit schneller wohl auch nicht. Die Erfahrungen aus Rotterdam und Tilburg lehren uns, dass das keine schlaue Haltung ist. Aber bequem ist sie schon.
    Weil die Zahl der Straftaten rückläufig ist, gehen natürlich auch weniger Fälle beim Jugendgericht in Berlin ein. Man nutzte aber diesen Rückgang nicht dazu, die Dauer der Verfahren zu verkürzen, sondern vielmehr dazu, vier Jugendrichter abzuziehen und sie an anderer Stelle einzusetzen. So kommt es, dass es trotz zurückgehender Fallzahlen immer noch rund vier Monate dauert, bis ein Fall vor Gericht abgeschlossen werden kann. Unbefriedigend, aber wieder ein kleines Lehrstück zum Thema Übereinstimmen von Worten und Taten in der Politik. Hieß es früher »Für mehr Richter haben wir kein Geld«, so heißt es heute »Wir brauchen die Richter woanders dringender«. Aber weinten nicht alle vor kurzem noch Krokodilstränen und beschworen die Bedeutung der Verkürzung der Verfahrensdauer? Was schert mich mein Geschwätz von gestern …
    Doch zurück zur Praxis. Vor Gericht gegen die eigene Community auszusagen, wäre für Täter, Mittäter und Mitwisser extrem gefährlich. Die eigene Familie würde es nicht billigen, weil

Weitere Kostenlose Bücher