Neukölln ist überall (German Edition)
Verkehrsordnungswidrigkeiten vorbeifährt, als hätte er nichts gesehen. Wenn ältere Menschen, die sich über Lärmbelästigungen unter ihrem Fenster beschweren, zu hören bekommen, dass man wegen zehn debattierender Menschen nicht mit einer Hundertschaft anrücken könne. Oder wenn illegale Partys und Kundgebungen geduldet werden, »um eine Eskalation zu vermeiden«. Man kann nicht jedes Mal eine Straßenschlacht beginnen, wenn drei Autos falsch geparkt sind oder fünf Familien grillen oder zehn Jugendliche über den Zaun geklettert sind, um auf dem Sportplatz Fußball zu spielen. Man nennt das die normative Kraft des Faktischen. Nur, wo ist die Grenze? Wann ist die Linie überschritten, an der die Missachtung der gesellschaftlichen Normen nicht mehr toleriert werden kann?
Polizeihauptkommissar Karlheinz Gaertner sagte mir, er würde bei einem beruflichen Neustart in Neukölln weder als Lehrer noch als Polizist arbeiten wollen. Die Ausführung der Gesetze, vor allem aber das Strafmaß entspreche nicht mehr dem, was er einmal gelernt habe und was er sich unter Gerechtigkeit vorstelle. »Ich habe Tausende von Straftätern festgenommen und Hunderte von Wohnungen durchsucht. Allein eine Person aus einer Großfamilie habe ich zwölfmal festgenommen. Ich stand dann vor 14 Verteidigern für sieben Angeklagte, von denen nicht einer einen einzigen Tag gearbeitet hatte. Aber sie waren wirtschaftlich voll integriert. Es mangelte ihnen an nichts. Ich bin beschimpft und bedroht worden. Den Richter hat es nicht weiter interessiert.« Man hört Resignation in seiner Stimme, wenn er von Kollegen berichtet, die sich vor der Gerichtsverhandlung mit Medikamenten beruhigten, um dieser nervlich gewachsen zu sein. Und wenn er zu dem Schluss kommt, dass es für Polizisten nicht leicht ist, in einer freien, toleranten und defensiven Gesellschaft dem Gesetz Achtung zu verschaffen und es durchzusetzen.
Es ist einfach so, dass Bevölkerungsschichten entstanden sind, die keinerlei Interesse daran haben, sich in diese Gesellschaft zu integrieren. Sie akzeptieren staatliche Repräsentanten und Institutionen in keinster Form und werden das auch künftig nicht tun. Davon können alle ein Lied singen, die in Uniform ihre Arbeit leisten, egal, ob Polizisten, Ordnungsamtsmitarbeiter, Feuerwehrleute, Sanitäter, Soldaten, Bus- und Bahnpersonal oder Behörden- und Krankenhausmitarbeiter. Jeder, der in irgendeiner Form die deutsche Gesellschaft sichtbar repräsentiert, wird zum Ziel von Aggressionen.
In Neukölln betrifft das insbesondere die arabischen Großclans, die zu einem erheblichen Anteil in die organisierte Kriminalität verstrickt sind oder sie auch darstellen. 7 % der Neuköllner Bevölkerung sind arabischer Herkunft, aber 49 % unserer jugendlichen Serienstraftäter tragen arabische Namen. Nach meiner Einschätzung ist ein großer Teil dieser Familien nicht besonders religiös. Dieses Erklärungsmuster greift nicht. Die Clans sind eher mit Revierauseinandersetzungen und dem Aufbau und Erhalt mafiöser Strukturen beschäftigt.
Der normale Bürger merkt manchmal gar nicht mehr, in welchen Netzwerken er sich bewegt. So eng sind die Verbindungen zwischen Lokalen, Shisha-Bars, Spielcasinos, Wettbüros, Schnellimbissen sowie Türstehern, Prostitution, Mädchen- und Drogenhandel inzwischen geknüpft. Immer mehr Grundstücke, Wohn- und Geschäftshäuser werden direkt oder über Strohleute erworben. Moscheen werden großzügig finanziert. Von allem geht eine einzige Botschaft aus: Die Macht haben wir.
Mieter werden nach dem Hauserwerb unter Gewaltandrohungen vertrieben, in Schulen werden die Sekretariate laut schreiend besetzt, um irgendwelche vermeintlichen Rechte durchzusetzen, die Benotung einer Arbeit zu verändern oder sich über das rassistische Verhalten der Lehrerin zu beschweren. In der Neuköllner Klinik wusste man sich ob der unangemessenen und Gewalt androhenden Auftritte nicht mehr anders zu helfen, als die Notaufnahme mit Wachschützern zu sichern. Über eine Ausweitung auf die Kinderklinik wird derzeit nachgedacht.
Es sind die permanent fordernden und Angst einflößenden Auftritte, die zu Abschottungsverhalten führen. Das Verhalten der Erwachsenen wird von den Kindern kopiert. Sie machen einfach das nach, was sie beim Vater, Onkel, Bruder und Cousin sehen. So ist es keine Seltenheit, dass Kinder unter zehn Jahren zu einem ausgesprochenen Problem im Wohnviertel werden. Die Bewohnerschaft schweigt zumeist. Jeder weiß, dass
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