Neukölln ist überall (German Edition)
Autos und Immobilien hier oder in der ursprünglichen Heimat.«
Ich habe den Schwerpunkt in diesem Kapitel auf den Aspekt der Jugendkriminalität gelegt. Wenn wir in die Zukunft schauen, ist die Jugenddelinquenz auch bedeutsamer für die Gesellschaft als das, was die Alten treiben. Neben Bildungsferne, Arbeitslosigkeit und sedierendem Sozialstaat ist das die vierte Säule, die die Integration tragen oder zusammenbrechen lassen kann. Ich habe versucht darzustellen, was Menschen auseinandertreibt und Stadtlagen veröden lässt.
Kriminalität ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Es gab sie immer, und es wird sie immer geben. In einer Großstadt ist sie fast Normalität. Das ist nicht schön, aber Fakt. Allerdings geht sie bei uns schon über das Normalmaß, was jeder auch darunter verstehen mag, weit hinaus. Dass in einem Monat im Frühjahr 2012 vier Menschen grundlos oder aus nichtigem Grund niedergestochen wurden, dass ein junger Türke auf der Straße niedergeknallt und ein arabischer junger Mann bei einer sinnlosen Rangelei durch einen Messerstich tödlich verletzt wird, dass sich zwei Großfamilien zu fünfzigst eine Massenschlägerei gönnen, dass zwei Familien sich eine Schießerei auf offener Straße liefern, es dürfte eigentlich jedem einleuchten, dass solche Verhältnisse den Fortzugsgedanken näher rücken lassen. Wir können die Zahl der Sozialprojekte verdoppeln oder verzehnfachen: Bleibt das Lebensumfeld weiterhin so unakzeptabel und fühlt sich darüber hinaus die Bevölkerung auch noch unsicher, dann wird es immer wieder Möbelwagen bei uns geben.
Unsere Kindertagesstätten
Immer wenn mich die Lust packt, wieder einmal eine Lehrstunde im täglichen Neuköllner Leben zu nehmen, besuche ich eine Kindertagesstätte oder eine Grundschule. Nicht nur, dass diese beiden Institutionen am dichtesten an den Familien dran sind, hier arbeiten normalerweise auch die fittesten Kräfte des öffentlichen Erziehungsangebots. Die menschliche Bandbreite immer einbezogen. Will man wissen, was sich im Gebiet tut, verändert und worauf man sich einstellen muss, so sind sie die untrüglichen Manometer im Melting Pot.
Ein Frühstück mit der Leiterin einer Kindertagesstätte oder einer Grundschulrektorin vermittelt mehr Einblicke in den Stadtteil als drei Workshops mit akademischen Sprechblasendrehern von der Metaebene. Das Prä haben ein klein wenig die Kindertagesstätten, weil dort meist das Verhältnis zwischen Eltern und der Einrichtung etwas entspannter ist als später in der Schule. Schule ist schon erheblich formaler, es ist eine staatliche Zwangseinrichtung, und erst dort geht es nach Meinung vieler Eltern ja wirklich um die Entwicklung des Kindes. Das ist zwar eine völlige Fehleinschätzung, aber sie korrespondiert mit dem landläufigen Vorurteil, dass Kindertagesstätten Einrichtungen sind, in denen Kinder aufbewahrt werden, weil die Eltern gerade keine Zeit für sie haben – die Kleinen spielen eben ein bisschen herum unter der Aufsicht von Kaffee trinkenden Erzieherinnen.
Kindertagesstätten sind Bildungseinrichtungen. Und ich gehe noch weiter. Sie sind das Fundament unseres gesamten Bildungssystems. Sie sind weder die Brückenköpfe einer sozialistischen Einheitserziehung noch ein Kinderheim light für Kinder von erziehungsunterbelichteten Eltern. Die weitverbreitete und immer wieder propagierte Meinung: »Nur Eltern, die arbeiten müssen oder zu faul sind, sich um ihre Kinder zu kümmern, bringen ihren Nachwuchs in die Kindertagesstätte, gute Eltern erziehen ihre Kinder alleine zu Hause«, ist genauso töricht wie fachlich unhaltbar.
Keine Kindertagesstätte kann und will den Kindern das Elternhaus ersetzen. Dass sie es manchmal doch muss, ist eine traurige Realität. In der Zeit vom 3. bis zum 6. Lebensjahr entwickelt sich das menschliche Gehirn mit einer unglaublichen Dynamik. Eigentlich beginnt sie schon vom 2. Lebensjahr an, indem die Kinder ihre Muttersprache ohne Lehrer erlernen und sich das Sprachzentrum ordnet. In dieser Lebensphase sind Kinder wie Schwämme: Sie saugen Erlebtes, also Wissen und Sprache, begierig auf. Geschieht das in einem Sozialraum unter Gleichaltrigen, entwickeln sich parallel ihre sozialen Kompetenzen. Hierbei müssen die Kinder unterstützt werden durch Stimulanz, Impulse und Motivation. Kinder entdecken die Welt. Alles ist aufregend für sie, und sie lernen gern. Die Herausbildung ihrer kognitiven Fähigkeiten, also die Kompetenz, Dinge wahrzunehmen und zu
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