Neukölln ist überall (German Edition)
verstehen, sich Wissen anzueignen, entscheidet nahezu irreversibel über den weiteren Lebensweg. Keine noch so engagierten, bildungsbeflissenen und liebevollen Eltern sind in der Lage, ein gleiches Feuerwerk an Kreativität und Abwechslungsreichtum aufzubieten, wie es eine Kindertagesstätte kann. Deshalb ist es innerhalb des Bildungsbürgertums absolut üblich, dass die Kinder in diesem Alter einem sozialen Lebensraum zugeführt werden. Seien es die Kindergruppen der Kirchengemeinde, schichtenreine Initiativkindergärten oder stinkteure gewerbliche Frühförder- oder Hochbegabten-Einrichtungen. Welches Türschild angeschraubt wird, ist eigentlich unwichtig. Das Ziel heißt immer, dem Kind eine herausfordernde Erlebniswelt zu bieten. Daran ist ja auch nichts falsch.
Aus all dem folgt, dass Kindertagesstätten als Institution der vorschulischen Bildung eine enorme Bedeutung für die Bildungskarriere der Kinder haben. Kinder lernen zehnmal schneller als Erwachsene. Aber man muss es ihnen beibringen. Werden die Weichen in den ersten Lebensjahren aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit falsch gestellt, hat das zur Folge, dass viele Begabungen und intellektuelle Fähigkeiten für den Rest des Lebens ungenutzt verkümmern.
Bildungsferne Eltern haben zumeist die klare Vorstellung, dass ihr Kind Doktor, Anwalt oder Pilot werden soll. Allerdings fehlt ihnen die Einsicht, welche Anstrengungen hierfür notwendig sind. Sie wissen nicht, wie eine Leistungsgesellschaft funktioniert und dass die Erfüllung der Träume vom gesellschaftlichen Aufstieg mit Lernen und Bildung zu tun hat. Da die Erfindung des Nürnberger Trichters weiterhin auf sich warten lässt, wird bis auf Weiteres die alte Methode des Lehrens, Übens und Lernens den Vorzug erhalten. Den Teilen der Gesellschaft, denen solche Erkenntnisse verborgen sind und eventuell auch verborgen bleiben, muss man bei der Erziehung ihrer Kinder helfen. Genau dies geschieht durch Kindertagesstätten. Aus meiner Sicht optimal vom 13. Lebensmonat an.
Aber genug der Philosophie. Wenden wir uns der praktischen Kindergartenwelt von Neukölln zu. 172 Kindertagesstätten bieten in Neukölln 12 400 Plätze an. Am 31. Mai 2012 waren diese Plätze mit rund 11 300 Verträgen belegt, von denen 6200 zur Gruppe der Einwandererkinder gehörten. Also etwa 55 %. Unsere Betreuungsquote betrug bei den unter 3-Jährigen 27 % und bei den 3- bis 5½-Jährigen (5½ ist das Einschulungsalter in Berlin) 89 %.
All diese Zahlen sind mit äußerster Vorsicht zu genießen. Fest steht nur, dass rund 1100 Plätze mit Betriebserlaubnis nicht genutzt werden, vorwiegend aus dem Grund des Erziehermangels. Uns fehlt es nicht an Plätzen, sondern an Personal. »Die haben Sorgen«, wird so mancher von Ihnen jetzt denken. In der Zahl der Verträge sind auch die Neuköllner Kinder enthalten, die eine Kita außerhalb Neuköllns besuchen. Ich gehe davon aus, dass sich diese Zahl mit der Zahl derjenigen aufhebt, die in Neukölln einen Platz belegen, den Vertrag aber in ihrem Wohnort haben.
Noch skurriler ist die Angabe des Anteils der Einwandererkinder, in Berlin, wie gesagt, »Kinder nicht-deutscher Herkunftssprache« (»ndH-Kinder«) genannt. Die statistische Erfassung beruht ausschließlich auf der Selbstauskunft der Eltern durch Ankreuzen eines Kästchens, ob zu Hause überwiegend deutsch gesprochen wird oder nicht. Für sehr belastbar halte ich diese Angaben daher nicht. Schon gar nicht mehr, seit ich in Erfahrung gebracht habe, dass dieses Merkmal immer wieder von Eltern nachträglich geändert wird, wenn ihr Kind vor einiger Zeit in einer Einrichtung aufgenommen wurde. Die Änderung erfolgt von der Kategorie »es wird zu Hause deutsch gesprochen« in »es wird zu Hause nicht überwiegend deutsch gesprochen«. Zum Hintergrund muss man wissen, dass Kindertagesstättenträger für Kinder mit dem Merkmal »kein überwiegender Gebrauch der deutschen Sprache« staatliche Zuschläge erhalten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Für das Eintauchen in den Alltag habe ich zwei Leiterinnen in den Zeugenstand gerufen. Sie haben mir ungeschminkt ihre Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus jahrzehntelanger Arbeit mit Kindern in Neukölln auf den Tisch gelegt. Beide waren damit einverstanden, dass ich ihre Namen nenne. Es sind eben sehr selbstbewusste und nicht so leicht umzupustende Frauen. Trotzdem tue ich es nicht. Ich belasse sie in ihrer Anonymität. Sie kennen das Geschäft nicht. Sie wissen nicht, wie es
Weitere Kostenlose Bücher