Neukölln ist überall (German Edition)
Verantwortung für jüngere übernehmen und sie an ihren Kompetenzen teilhaben lassen. Für die Jüngeren wiederum sind die Älteren ein Vorbild, sie ahmen sie nach. Das alles funktioniert aber nur, wenn die Älteren über Kompetenzen verfügen und diese auch verantwortungsbewusst einsetzen wollen und können. Dort, wo der Kleinere und Schwächere zum willkommenen Opfer wird, oder dort, wo der Ältere eher Vulgärsprache und körperliche Bedrohung sowie die Erfahrung der Überlegenheit vermittelt, bricht das System zusammen. Das gilt analog, wenn Kleinere nicht Sozialverhalten und Wissen vom Älteren aufnehmen, sondern den Beweis antreten wollen, dass kleiner nicht schwächer heißen muss.
Dieses JüL wurde zum jahrelangen Glaubenskampf in der Berliner Lehrerschaft. 1000 Lehrer aus Brennpunktschulen unterschrieben damals eine Resolution, in der sie darum baten, JüL an ihren Schulen nicht einführen zu müssen. Es hörte niemand hin. Heute sind wir einen Schritt weiter. Inzwischen wird den Schulen freigestellt, ob sie mit JüL die Schullaufbahn starten oder mit traditionell altersgetrennten Klassen. So, wie es zu jedem Kollegium und zu den Anforderungen des Einzugsgebiets passt. Man hätte in einem Rutsch auch die Vorschulklassen gleich wieder reanimieren können. So viel Revolution hat dann leider doch nicht geklappt. Schade.
Ein ähnlicher Zankapfel ist der bundesweite Leistungstest VERA 3. Auch hier weisen die Schulen in den sozialen Brennpunkten darauf hin, dass dieser Test den Kindern nicht hilft, sondern sie eher zurückwirft. Nach Meinung der Lehrer ergibt es keinen Sinn, Kindern Aufgaben vorzulegen, die sie nicht lösen können. Die sie schon deswegen nicht lösen können, weil sie sie gar nicht verstehen. »Kann man aus Seemannsgarn einen Pullover stricken?« Die Antwort auf diese Frage niederzuschreiben ist für viele Kinder nicht möglich. Sie wissen nicht, was Seemannsgarn ist, sie wissen unter Umständen nicht, was ein Pullover ist, und das Wechseln von einer abstrakten in eine reale Ebene überfordert sie völlig.
Ich könnte noch mehr Beispiele aus VERA 3 zum Besten geben, aber ich möchte nicht, dass Sie eventuell an einer Aufgabe scheitern und traurig werden. Ich habe für meine Person entschieden, mich den Lehrern anzuschließen. Wir produzieren damit nur Kinder, die sich schämen. Oder Kinder, denen wir quasi »staatliches Schummeln« beibringen, weil die Lehrer unerlaubterweise helfen. Um festzustellen, dass die Kinder das nicht können, von dem wir wissen, dass sie es nicht können, brauchen wir den Test nicht. Trotzdem kommt es immer, wie es kommen muss. 38 % der geprüften Drittklässler erfüllen bei uns nicht einmal die Mindestanforderungen im Bereich Leseverständnis (von den Drittklässlern aus Migrantenfamilien sind es über 60 %), beim Zahlenrechnen bleiben weit mehr als 40 % unter den Mindestanforderungen. Einzig positiv ist dabei vielleicht die Kontinuität der schlechten Ergebnisse, könnte man sarkastisch anfügen.
Das desaströse Ergebnis der Prüfung zum Mittleren Schulabschluss habe ich bereits angesprochen. In Neukölln fielen 2012 über 80 % der Realschulprüflinge in Mathematik durch. Im Jahr zuvor waren es »nur« etwas mehr als 70 %. Eine ähnliche Entwicklung ist in ganz Berlin zu beobachten: Es bestanden nur 52 % die Matheprüfung. 2011 waren es 53 %, 2010 noch 67 % und ein Jahr zuvor 69 %. Auf Deutsch: Das Leistungsniveau sackt von Jahr zu Jahr ab. Aber wie erwähnt, diskutieren wir jetzt über das Leistungsproblem mit den Schülern. Das verhilft zum Zertifikat. Das Schwadronieren ist in Berlin eine beliebte Methode, um schwierigen Situationen verbal zu begegnen.
Ein immer wieder gern genommenes Thema sind in Berlin die Schulschwänzer, korrekt bezeichnet als »schuldistanzierte Jugendliche«. Die Überschriften sind martialisch, jeder hat etwas dazu beizutragen, und verbal kann man alle Marterinstrumente mal richtig zähnefletschend zeigen. Zwar ist das wirklich ein wichtiges Thema. Aber in der Praxis bleibt es bei den Drohgebärden. Das geht so weit, dass man nach außen doppelt die Muskeln spielen lässt und im Dienstbetrieb Schulschwänzen gar nicht verfolgt.
Es ist ja auch schwierig. Aktive Schulschwänzer, die einfach keine Lust haben, zur Schule zu gehen, handeln vorsätzlich und sind durchaus gewieft darin, Eltern, Schule und Behörden hinters Licht zu führen. Eltern, die nicht am Schulbesuch ihrer Kinder interessiert sind und
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