Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neukölln ist überall (German Edition)

Neukölln ist überall (German Edition)

Titel: Neukölln ist überall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Buschkowsky
Vom Netzwerk:
Arbeitskreis ist der auswendig gelernte Erlkönig. Zu den Programmpunkten gehören Exkursionen auf den Spuren berühmter Dichter und Schriftsteller. Der Schülerkreis ist inzwischen auf 40 Mitglieder angewachsen, so dass schon eine Warteliste eingerichtet werden musste – ein weiteres Beispiel dafür, dass es gelingen kann, extrem destruktive junge Menschen zu erreichen. Mit Engagement, und wenn man sie ernst nimmt und es ihnen auch zeigt.
    Das eben geschilderte Desinteresse der Eltern hat im Übrigen nichts damit zu tun, dass sie keine klaren Vorstellungen zum gewünschten Arbeitsergebnis der Schulen haben. Das Meinungsforschungsinstitut TNS EMNID hat eine Untersuchung vorgelegt, für die 500 Eltern befragt wurden, die ihre grundschulpflichtigen Kinder zur Nachhilfe schicken. Von den Eltern mit Migrationshintergrund wollten 54   %, dass ihre Kinder einmal das Gymnasium besuchen. Von den deutschen Eltern waren es nur 25   %. Die Einwanderereltern beklagen sich auch nicht über Druck an der Schule. Das ist eher eine deutsche Domäne. In den Nachhilfefächern belegen Deutsch und Mathematik die ersten beiden Plätze. Diese Studie bestätigte eine Befragung türkischer Einwanderer des Instituts Allensbach. Auch hier stellte man einen auffallenden Bildungsehrgeiz fest. 71   % der türkischen Eltern stimmten der Aussage zu: »Meinen Kindern soll es einmal besser gehen als uns.« In der Gruppe aller Eltern waren es nur 41   %. Wenn man also das Verhalten der Eltern im Schulalltag in Beziehung zu ihren Bildungserwartungen stellt, ist eine Diskrepanz in vielen Fällen unübersehbar.
    Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, wie wenig sich im Alltag unserer Schulen in den letzten Jahren geändert hat, dass die Unterstützungsmaßnahmen stets nur halbherzig waren, dann erhalten die am Beginn des letzten Kapitels wiedergegebenen Zitate von Klaus Kinkel und Klaus Wowereit einen bitteren Beigeschmack. Die Auflösung der Hauptschulen in Berlin war richtig und wichtig, kam aber zu spät und ohne ausreichende materielle Unterfütterung. Dazu gesellen sich Wunderlichkeiten: Ich empfinde es noch heute als einen Treppenwitz, dass im Jahre 2008 der Berliner Senat die Klassenfrequenzen in den Grundschulen der Problembezirke – nein, nicht gesenkt, sondern aufgestockt hat, nämlich von 20 auf 24 Kinder. Hintergrund war, dass die Absenkung der Frequenz in den sozial schwierigen Gebieten auf die Missgunst der Parteifunktionäre in den bürgerlichen Bezirken fiel. Das war die berühmte Berliner Solidarität. Insbesondere in der SPD , versteht sich.
    JüL und VERA 3 sind Ihnen schon begegnet, aber ich denke, wir sollten diese Themen noch etwas vertiefen. Die Abschaffung der Vorklassen war meines Erachtens ein kapitaler Fehler. Gerade in den Brennpunktlagen waren die Vorklassen eine prima Einrichtung, um die Kinder aus bildungsfernen Familien ein Jahr lang zu trainieren und auf die Schule vorzubereiten. Man kann auch sagen: um sie schulfähig zu machen. Bis heute trauern die Schulen den Vorklassen nach. Ein Vorschulkind machte in diesen zwölf Monaten einen solchen Sprung im Kompetenzerwerb, dass sich der Start in die Schullaufbahn erheblich reibungsloser vollzog als mit der modernen Nachfolgelösung. Diese heißt »jahrgangsübergreifendes Lernen«: JüL. Man kann auch Schulanfangsphase in altersgemischten Klassengruppen dazu sagen. Das Einschulungsalter wurde auf 5½ Jahre herabgesetzt. Die Kombination aus Aufgabe der Vorklasse und gleichzeitigem Absenken des Einschulungsalters bezeichnen Praktiker als bildungspolitische Katastrophe. Insbesondere Kinder, die vor der Einschulung nicht mindestens zwei Jahre in einer Kindertagesstätte waren, haben sich zu einer ausgesprochenen Herausforderung für die Lehrer entwickelt. Diese Erstklässler sind teilweise noch sehr kleinkindlich, motorisch sehr stark zurück und nicht altersgemäß entwickelt, weil sie keinerlei Bewegungserfahrung haben, nie herumtoben konnten und immer nur im Auto oder Buggy hin- und hergekarrt wurden. Das ist einfacher und geht deutlich schneller, als mit einem kleinen Kind an der Hand zu laufen. Aus dem Wagen vor den Fernseher – das führt nun einmal nicht zu einer altersgemäßen Entwicklung. Aber dieses Thema hatten wir jetzt schon mehrfach.
    Zunehmend treffe ich Lehrkräfte, die der Verzweiflung nahe sind. Sie sagen: »Ich habe nie gelernt, mit ›halben Babys‹ Schule zu machen.« JüL beruht auf dem Grundsatz, dass ältere, bereits fortgeschrittene Kinder die

Weitere Kostenlose Bücher