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Neukölln ist überall (German Edition)

Neukölln ist überall (German Edition)

Titel: Neukölln ist überall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Buschkowsky
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gesellschaftliches Versagen auf der einen Seite und auf der anderen die importierten Wertegerüste, die archaischen Verhaltensweisen und tradierten Rollenmuster, in denen die Familien verhaftet sind und die zu ihrer Unbeweglichkeit und mangelnden Anpassung führen. Religiöser Wahn, fundamentalistische Glaubensriten, aber auch Bequemlichkeit und Abzocke – das sind die Dinge, die die Helfer zur Verzweiflung treiben.
    Im folgenden Kapitel werden Sie der Rütli-Schule erneut begegnen. An dieser Stelle nur ein kleiner Vorgeschmack, wie alles begann. Es war ein richtiges Medien-Festival. Als ob jemand den Spund aus dem Weinfass gezogen hätte. Ich hatte so etwas in meinem Leben noch nicht gesehen. Die ganze Rütlistraße glich einem Heerlager: Zelte waren aufgebaut, Wohnwagen, Dutzende von überdimensionierten Satellitenschüsseln aufgestellt. Ich glaube, die Redewendung »Hunderte von Journalisten« ist nicht übertrieben. Alles musste damals herhalten: Bilder der Gewalt, unflätige Äußerungen der Schüler, Kommentare, die das Blut in Wallung brachten. Die veröffentlichte Meinung brauchte ihren Horrortrip. Noch lange gab es Streit um die Anschuldigungen, dass Journalisten Schülern Geld dafür gezahlt hätten, dass sie vor laufenden Kameras randalieren.
    Als einige Journalisten damals durch das Gebäude geführt wurden, waren sie arg enttäuscht. Es gab keine beschmierten Wände, keine herausgetretenen Türen, und nirgendwo waren Blutlachen auf der Erde zu sehen. Ich will die schwierige Situation seinerzeit nicht schönreden. Aber die Rütli-Schule war eine Hauptschule wie viele andere in Deutschland. Die, die da unterrichtet wurden, waren nicht selten sogenannte »Wanderpokale«. Also Schülerinnen und Schüler, die von Schule zu Schule durchgereicht worden waren, bis sie dann in der Rütli-Schule landeten.
    Natürlich wussten die jungen Leute das. Ihnen war klar, dass die Rütli-Schule nicht der Start in ein glorreiches Leben, sondern eher das Ende einer vermasselten Schulkarriere war. Und so benahmen sie sich auch. Sie hatten bis zur Ankunft in dieser Schule nichts getan und nichts gelernt, und sie setzten diese Haltung routiniert fort. Unterricht im klassischen Sinne war an dieser Schule nicht möglich.
    Das war die eine Seite der Medaille. Die andere Seite war ein Kollegium, das auf die Schülerschaft nicht vorbereitet war und ihrer auch nicht Herr wurde. Die kulturelle Kompetenz der Lehrkräfte war schnell ausgeschöpft. Das merkten die jungen Leute sehr flink. Rücksichtslos, wie Jugendliche nun einmal sind, nutzten sie jede Schwäche aus und feierten jeden Nervenzusammenbruch, jeden Tränenschwall einer Lehrerin als einen gigantischen Sieg über die verhasste Schule.
    Aus dieser Situation heraus entstand die Erfolgsgeschichte vom Campus Rütli. Ein Vorzeigeprojekt, auf das wir stolz sind und an dem viele Menschen ihren Anteil haben. Es macht inzwischen richtig Spaß, die sich immer weiter steigernden Erfolge der Rütli-Schule mitzuerleben.
    Das zweite Beispiel, dass Schule in Brennpunkten anders geht, ist das Albert-Schweitzer-Gymnasium. Es liegt in einem »kriminalitätsbelasteten Gebiet«, wie die Polizei sagt. Im Inneren war wohl auch nicht alles Gold, was glänzte. Jedenfalls war es 2006 so, dass es noch 385 Schülerinnen und Schüler auf 640 Plätzen gab. Die Schule starb. Wir hätten sie damals schließen können. Ja, eigentlich schließen müssen. Die öffentliche Reaktion hätte gelautet: »Die Doofen in Neukölln brauchen kein Gymnasium.« Der damalige Schuldezernent und ich wollten das nicht. Wir wollten eine erfolgreich funktionierende Schule. Und so wurde ein neuer Direktor geholt. Einer, der tschechische Schüler zum deutschen Abitur geführt hatte. Was mit Tschechen geht, muss mit Neuköllnern auch klappen, dachten wir uns. Und wir machten aus dem Normal-Gymnasium eine Modellschule – Berlins erstes Ganztagsgymnasium. Als Partner holten wir das Quartiersmanagement und das Türkisch-Deutsche Zentrum ins Boot. Sie übernahmen die Freizeitgestaltung und das Schülercoaching. Die Coaches sprechen die Sprache der jungen Leute, für die ein Oberstudiendirektor eine Anzeige bekommen würde. Wir führten Förderkurse ein. Förderkurse in Deutsch an einem deutschen Gymnasium! Der Skandal war perfekt. Im Probejahr fingen wir mit den Schülern an, die gerade die Grundschule beendet hatten und jetzt in die 7. Klasse kamen, und verlängerten mit Erfolg die Probezeit auf zwei Jahre. Der Anteil von

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