Neukölln ist überall (German Edition)
bewusst, dass meine Radikalforderung nach der Kindertagesstättenpflicht ab dem 13. Lebensmonat wohl noch einige Zeit, eine sehr lange Zeit, benötigen wird, um sich durchzusetzen. Vielleicht schafft sie es auch nie. Generationen von Müttern werden ihr dann nachtrauern. Von den Gegnern einer Kindertagesstättenpflicht werden immer zwei Argumente ins Feld geführt. Zum einen würde sie gegen die Verfassung verstoßen, und zum anderen wäre es ein Generalverdacht gegen alle Eltern, sie könnten ihre Kinder nicht vernünftig erziehen. Beides ist Quatsch.
Artikel 6 unseres Grundgesetzes formuliert das Elternrecht wie folgt: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.« Der zweite Satz wird meist schamhaft verschwiegen. Er postuliert nämlich ein staatliches Wächteramt über unsere Kinder. Ich kann auch nicht nachvollziehen, wieso eine Kindertagesstättenpflicht das Grundrecht auf Pflege und Erziehung aushebeln sollte. So eine Verpflichtung bedeutet mitnichten automatisch eine Ganztagsbetreuung Montag bis Freitag von morgens bis abends. Auch zwei- oder dreimal vier Stunden die Woche kann diese Pflicht beinhalten. Das wäre dann eine Kopie der früheren Mini-Clubs der Kirchengemeinden.
Schon vor Jahrzehnten haben Eltern im Bildungsbürgertum völlig zu Recht erkannt, dass die Kleinfamilie Kindern den Erfahrungsraum unter Gleichaltrigen geraubt hat. Eine ganze Sozialisationsebene ist weggebrochen. Deshalb schuf man die Mini-Clubs. Das hatte mit Jugendhilfe und Erwerbstätigkeit überhaupt nichts zu tun. Durch einen Teilzeitaufenthalt in der Kindertagesstätte das Grundrecht in Gefahr zu sehen ist einfach albern. Aber selbst bei einem Ganztagsbesuch steht das Erziehungsrecht der Eltern überhaupt nicht in Frage. Keine noch so gut ausgebildete Erzieherin vermag es, in das Beziehungsgeflecht und die engen emotionalen Bindungen zwischen Kindern und ihren Eltern einzudringen. Wenn immer wieder die sozialistische Einheitserziehung beschworen wird, dann dient das nur dazu, Eltern zu verschrecken, so, wie man Kindern Angst einjagt, indem man ihnen von dem bösen Schwarzen Mann erzählt.
Auch die Schule greift in das Bestimmungsrecht der Eltern ein. Schule ist staatlich angeordnete Freiheitsberaubung. Warum darf der Staat das, sobald das Kind fünfeinhalb oder sechs Jahre alt ist, mit 3-Jährigen aber nicht? Seit wann hängt ein Grundrecht vom Lebensalter ab? Zu guter Letzt, auch Grundrechtsartikel kann man ändern. Das ist eine Frage politischer Mehrheiten. Nicht mehr und nicht weniger. Eines will ich zu bedenken geben. Eine Pflicht für den Einzelnen bedeutet für die Gesellschaft auch immer eine Verpflichtung, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Einzelne diese Pflicht erfüllen kann. Nämlich die Plätze zur Verfügung zu stellen und für Kostenfreiheit zu sorgen. Mir wird immer gesagt, wir brauchen keine Kindertagesstättenpflicht, weil doch ohnehin schon alle hingehen. Das stimmt zwar nicht, aber mal angenommen, es wäre so: Dann können wir es ja erst recht machen. Es dürfte dann niemanden stören.
Bis wir an dieser Stelle einen Schritt weiter kommen, wird es wohl so bleiben, dass die Kinder des Bürgertums wie selbstverständlich in den Kindergarten gehen und die, die es am nötigsten hätten, ihrem Schicksal überlassen bleiben. Eine Gesellschaft muss sich immer daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Das sind nun einmal die Kinder. Es ist unsere Pflicht, nach ihnen zu schauen und uns auch um sie zu kümmern, wenn die Eltern es nicht ausreichend können oder wollen. Kinder sind eigenständige Lebewesen und keine Sache im persönlichen Eigentum ihrer Erzeuger. Deshalb müssen wir unser Wächteramt eben anders wahrnehmen als bisher. Nicht erst im Konfliktfall eingreifen und versuchen zu reparieren, was dann meist gar nicht mehr zu reparieren ist. Sondern vorher, präventiv, leitend und begleitend, helfend und fördernd. Eine Bekannte von mir hat sich nach Schottland verheiratet und bekam dort eine Tochter. Über eineinhalb Jahre erschien in den schottischen Highlands engmaschig eine Sozialarbeiterin und schaute nach dem Kind. Beide Elternteile sind Akademiker und fanden das völlig normal. Ich stelle mir das in Deutschland vor. Oder lieber nicht?
An die Vorschulerziehung schließt sich konsequenterweise die Schule nahtlos an. Unser Schulsystem hat es bis
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