Neukölln ist überall (German Edition)
Kindertagesstättenbesuchs für die Entwicklung der Kinder bestätigen. Legen wir unseren Fokus auf die Einwandererkinder oder auch sonst sozial Benachteiligte, so verbessern sich deren Startchancen beim Schuleintritt deutlich, wenn sie vorher drei Jahre im Kindergarten waren. Interessant ist, dass sich bei einer Verweilzeit von nur einem Jahr keine nachweisbaren Verbesserungen ergeben. Hierbei handelt es sich um eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ( DIW ). Wenn die Eltern keinen Bildungsabschluss haben und das Kind überhaupt nicht oder nur kurz in der Kindertagesstätte war, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es vom planmäßigen Schulstart zurückgestellt wird, bei 50 %.
Die Ergebnisse des DIW zeigen, dass ein Krippenbesuch die spätere Schulkarriere positiv beeinflusst. Dies wird durch die bereits erwähnten Untersuchungen der Bertelsmann Stiftung bestätigt. Den beeindruckendsten Bericht habe ich über ein Vorschulexperiment, das »Perry Preschool Project«, gelesen. Es wurde im Jahre 1962 begonnen. Man wählte damals 123 3- bis 4-jährige Kinder mit niedrigem IQ aus, die unter sozial schwierigen Bedingungen aufwuchsen. Sie kamen aus afroamerikanischen Elternhäusern. Die Eltern waren oft ohne Arbeit, und die Kinder lebten in unvollständigen Familien.
58 Kinder wurden bis zum Schuleintritt täglich 2½ Stunden mit einem Programm, das dem in unseren Kindertagesstätten ähnelt, und einem 90-minütigen wöchentlichen Besuch der Erzieherin zu Hause betreut. Mit den anderen 65 Kindern geschah nichts, sie wurden nur regelmäßig beobachtet. Die Kinder von damals wurden im Alter von 40 Jahren abschließend befragt. Die Ergebnisse sind frappierend. Obwohl der Einfluss nur zwei Jahre im Kleinkindalter andauerte, waren die Erwachsenen lebenstüchtiger, intelligenter, mit einem höheren Schulabschluss versehen, verdienten mehr Geld, kamen seltener ins Gefängnis und hatten weniger Drogenprobleme als die nicht geförderten. Die Unterschiede betrugen bis zu 50 %. Ich kann die Ergebnisse dieser Langzeituntersuchung natürlich nicht bestätigen, ich war nicht dabei. Aber der amerikanische Nobelpreisträger James Heckman hat sie evaluiert und für belastbar erklärt. Also ein Plädoyer für die Kindertagesstätte als Bildungseinrichtung.
Ich will Ihnen auch nicht verschweigen, was ein leidenschaftlicher Gegner zu diesem Thema zu sagen hat. Der FOCUS -Online- Autor Alexander Kissler kam in einem Beitrag zu der Erkenntnis: »Brave Bürger züchtet sich der Staat desto leichter, je früher er ihrer habhaft wird. Schon das Kleinkind soll die Wonnen der Staatstreue auskosten. Erziehungs- und Bekenntnisfreiheit müssen hintan stehen. (…) Die Kita-Pflicht soll den Staatsbankrott verhindern. ›Alle Kinder‹ sollen durch Fremdbetreuung einen frühkindlichen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten. Ihr Daseinszweck ist es, die ›Steuern und Sozialabgaben‹ der Eltern anwachsen zu lassen (…).« So etwas kann man in deutschen Politmagazinen lesen. Ist doch unterhaltend.
Dabei waren wir schon einmal viel weiter. Die SPD präsentierte 2005 einen radikalen Neuanfang in der Bildungspolitik. Für Kinder unter drei Jahren sollte ein flächendeckendes, ganztägiges und kostenloses Betreuungsangebot geschaffen werden. Und für die 3- bis 6-jährigen Kinder war eine verpflichtende und kostenfreie Ganztagsvorschule vorgesehen. Ab dem 6. Lebensjahr sollten alle Kinder eine ganztägige Gemeinschaftsschule besuchen. Die Auflösung des drei- bzw. viergliedrigen Schulsystems rundete die Vorschläge ab.
Natürlich kam von konservativer Seite sofort die Gegenwehr. Gleichmacherei und Zentralisierungswahn, hieß es da. Ganz ohne Wirkung blieben die Vorschläge der SPD aber anscheinend doch nicht. Die damalige Bundesfamilienministerin Dr. Ursula von der Leyen und die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Prof. Dr. Böhmer wiesen zwar den Gedanken an eine Kindergartenpflicht mit Abscheu von sich, erklärten aber in trauter Zweisamkeit, dass die Kindergartenbeiträge mittelfristig abgeschafft werden sollten.
Nun, an ihre eigenen Vorschläge erinnert sich die SPD heute nur noch ungern, und von kostenfreien Kindertagesstätten redet die CDU auch schon lange nicht mehr. Der Fortschritt für die Kinder war so nah und ist doch inzwischen wieder so fern. Heute setzen wir uns mit dem Rollback auseinander, Kinder gegen Geldprämie von der Kindertagesstätte fernzuhalten. Arme Kinder in Deutschland.
Mir ist schon
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