Neukölln ist überall (German Edition)
dass die Einwandererkinder infolge des Ausleseprinzips der Familien bei der Einwanderung im Durchschnitt einfach bildungsorientierter sind als die Masse der Inländer. Der Taxifahrer oder Hausanstreicher mit akademischem Abschluss wird alles daran setzen, dass seine Kinder einen besseren Job bekommen können als er. Und er wird sie mit positivem Input auf den Weg des Wissenserwerbs begleiten. Das unterscheidet uns von Kanada oder Australien und nicht die Höhe des social transfer .
Wir sind dabei, den globalen Wettbewerb um die klugen Köpfe zu verlieren. Wenn es nicht schon zu spät ist. Nach Erhebungen der Mercator-Stiftung wanderten von 2007 bis 2009 ganze 363 hochqualifizierte Arbeitnehmer nach Deutschland ein. Von Januar bis September 2009, also in nur neun Monaten, waren es in Großbritannien 15 530. Den Sonntagsreden über das internationale Renommee Deutschlands und die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarkts machen diese Fakten schlicht den Garaus. Wir haben heute schon einen Mangel an Fachkräften in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik ( MINT ). Umgekehrt gehörte Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zu den OECD -Staaten, welche die am schlechtesten qualifizierten Einwanderer angezogen haben. Aber vielleicht wird die neue Blue Card dazu beitragen, mehr ausländische Fachkräfte nach Deutschland zu locken. Mussten Zuwanderer aus Nicht- EU -Staaten dem Zuwanderungsgesetz nach bislang ein Jahresgehalt von 66 000 Euro nachweisen, sind es jetzt nur noch 44 8000 Euro. Für die genannten Mangelberufe liegt das Mindesteinkommen mit 35 000 Euro im Jahr noch niedriger. Ausländische Hochschulabsolventen, die im Land bleiben wollen, haben jetzt nicht mehr nur zwölf, sondern 18 Monate Zeit, eine Anstellung zu finden. Unabhängig von dieser gesetzlichen Neuregelung scheint auch die Eurokrise an einer Stelle unser Verbündeter zu sein. Machen sich doch deutlich vermehrt auch hochqualifizierte Menschen aus Südeuropa auf den Weg zu uns.
Ich bin dafür, die gesamte Thematik der Einwanderung sehr viel rationaler als bisher zu betrachten. Einwanderung ist mehr als gewollter oder inszenierter Familiennachzug. Es ist richtig, nicht nur den Benefit für die Ankommenden zu betrachten, sondern auch den, den die Gesellschaft von der Einwanderung hat. Das bedingt sich wechselseitig. Die Einwanderung von Menschen, die nach menschlichem Ermessen in unserer Gesellschaft nur wenige Chancen haben werden, sollte sich auf den Asylbereich beschränken. Die Forderung von sprachlichen Mindeststandards halte ich genauso für zumutbar wie die Erwartung, dass sich ein 23-Jähriger entscheiden kann, mit welcher Staatsangehörigkeit er künftig leben möchte. Die große Politik unterstellt 16-Jährigen die politische Reife für das Wahlrecht, hält aber 23-Jährige für überfordert von der Aufgabe, sich klar darüber zu sein, wo sie hingehören. Logik geht anders.
Was uns weiterhin von anderen Einwanderungsnationen unterscheidet, ist das starre Bildungssystem. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir in der Zeit stehen geblieben sind, als in der Schulfibel Familien abgebildet waren, in denen die Mädchen blonde Zöpfe und weiße Kniestrümpfe und die Jungen kurze Hosen mit Hosenträgern und Linksscheitel trugen. Wie ich in den anderen Kapiteln ausgeführt habe, sieht unsere Gesellschaft so aber nicht mehr aus. Das Bildungssystem hat nicht die Aufgabe, sich eine neue Bevölkerung zu schaffen, sondern die auszubilden, die da ist. Innerhalb des Aufgabenspektrum der OECD gibt es keinen Bereich, in dem so starke Kritik an der Bundesrepublik laut wird wie beim Bildungswesen. Und dennoch stampfen unsere Bildungspolitiker weiterhin trotzig mit den Füßen auf und sagen: »Alles ist gut.«
Mein SPD -Boss Sigmar Gabriel erzählte mir unlängst, dass wir bei den Bildungsaufwendungen dem kleinen Dänemark »nur« um 50 Milliarden Euro hinterherhinken. Immer wieder bestätigt uns die OECD , dass der Lebensweg der Kinder in keinem anderen Industrieland so stark vom gesellschaftlichen und sozialen Stand der Eltern abhängt wie in Deutschland.
Die ungleichen Entwicklungschancen für Kinder beginnen schon bei der Vorschulerziehung. Dass Kinder einen Sozialraum mit anderen Kindern benötigen, dass die Herausbildung der kognitiven Fähigkeiten der Kinder bereits ab dem 13. Lebensmonat einer stürmischen Entwicklung unterliegt, dass das Sprachzentrum mit zwei und drei Jahren extrem belastungsfähig ist,
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