Neukölln ist überall (German Edition)
Übrigen hat der Schlamper- und Unlustvirus längst auf viele junge Leute ohne Migrationshintergrund übergegriffen.
Man muss zu diesem Themenkreis noch wissen, dass ein erheblicher Teil der Ausbildungsverhältnisse vorzeitig wieder gelöst wird. In Berlin sind das immerhin 27 %. Alles in allem ist davon auszugehen, dass in Deutschland jedes Jahr 150 000 Jugendliche ohne Ausbildungsabschluss bleiben, obwohl ein großer Anteil von ihnen sogar über einen Realschulabschluss verfügt. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat einmal errechnet, dass die Kosten für einen so hohen Anteil junger Menschen ohne Ausbildung sich auf 1,5 Milliarden Euro pro Jahrgang summieren. Das bedeutet, wenn wir zehn Jahre lang weiter zusehen, wie junge Leute an der Hürde zum Berufsleben scheitern, dann haben wir das Sozialsystem allein dadurch um weitere 15 Milliarden Euro »bereichert«.
Ich habe ja schon berichtet, welche Konsequenzen man in den Niederlanden aus einer vergleichbaren Situation gezogen hat. Zum einen werden Berufsbilder geschaffen, die speziell auf die Jugendlichen mit Handicap zugeschnitten sind. Sie haben eine kürzere Ausbildungsdauer und verlangen ein geringeres Einstiegswissen. Zum anderen werden alle arbeits- und ausbildungslosen Jugendlichen vom Arbeitsamt ständig in sogenannten Speedmeetings mit Angeboten von Arbeitgebern konfrontiert. Ungefähr 200 junge Leute wandern im Dreiminutentakt von Tisch zu Tisch. Hinter jedem Tisch sitzt ein Arbeitgeber, der eine Beschäftigungsmöglichkeit anbietet. Man wird sich schnell einig oder nicht. Auch hier gilt die bekannte Regel: Erscheinen die jungen Leute zu diesen Speedmeetings nicht, ist die Sozialhilfe futsch. Eine derart enge Führung könnte man bei uns genauso organisieren. Wir hatten in Neukölln vor Jahren ein Jobcenter nur für unter 25-Jährige eingerichtet. Dies führte dazu, dass die Leine kürzer wurde. Nicht alle jungen Kunden fanden das positiv. Wir störten ihren gewohnten Tagesablauf. Einige verabschiedeten sich freiwillig aus dem Leistungsbezug.
Außer mit dem Jugend-Jobcenter haben wir mit einer allgemeinen Filiale in einem Wohnblock experimentiert. Auch das hat sich als Erfolg herausgestellt. Die Aufhebung der Anonymität, der direkte Kontakt, die entstehende soziale Kontrolle durch die stärkere Nähe und Bekanntschaft führen dazu, dass viele Hartz- IV -Empfänger sich doch in die Verantwortung nehmen lassen. Es gibt auch die, die eigene Lösungen zum Bestreiten des Lebensunterhalts finden und sich auf Nimmerwiedersehen aus der liebevollen Umarmung des Jobcenters lösen. Insbesondere bei den »marktfernen« Kunden konnte die Jobcenter-Filiale fast bessere Ergebnisse erzielen als das Haupthaus.
Ich plädiere für kleinteilige Vor-Ort-Jobcenter. Im IT -Zeitalter dürfte das technisch kein Problem sein. Die Kunden unter 25 Jahren sollten aus dem allgemeinen Betrieb ausgegliedert und einer besonderen Organisationseinheit mit speziellen Betreuungsformen zugeführt werden. Wenn es dann noch gelingt, die Ausbildungsbereitschaft in der ethnischen Ökonomie zu steigern, dann sehe ich gute Chancen, ein Stück Perspektivlosigkeit gerade bei Einwandererkindern zu beseitigen. In Deutschland gibt es etwa 300 000 migrantische Unternehmen mit rund 1,5 Millionen Arbeitsplätzen. Davon allein 80 000 türkische Selbständige mit 400 000 Beschäftigten und einem jährlichen Umsatz von 34 Milliarden Euro. Bei der Ausbildung hapert es jedoch. Sie kostet Geld und macht Mühe. Davor scheinen sich migrantische Unternehmer gern zu drücken. Ich kann schwer beurteilen, ob die Verbände und Kammern nicht doch den Druck auf ihre Mitglieder in diese Richtung erhöhen könnten und sollten.
In diesem Zusammenhang sollte man auch über eine Wirtschaftsförderung für soziale Brennpunkte nachdenken. Ein ähnliches Instrument hatten wir früher mit der Zonenrandförderung. Denkbar wäre aus meiner Sicht, Unternehmen steuerlich zu begünstigen, die in sozialen Brennpunkten Arbeitsplätze, aber vor allem Ausbildungsplätze schaffen und besetzen.
Ein Thema, das immer wieder zu leidenschaftlichen Diskussionen und Gefühlsausbrüchen führt, ist die Frage der Anwendung von Ordnungs- und Sanktionsprinzipien in der Integrationspolitik. Die Formulierung einer Berliner SPD -Abgeordneten ist dafür symptomatisch: »Dass man Eltern in die Pflicht nimmt, finde ich ok. Sanktionen, vor allem finanzielle, sind aber nicht der richtige Weg.« Ich stehe immer etwas
Weitere Kostenlose Bücher