Neukölln ist überall (German Edition)
ihrer Landesregierung aus der Hand genommen wird – und auf die nationale Ebene kommt. Offensichtlich sind es die Menschen leid, dass nach jeder Landtagswahl das Schulwesen bei den Koalitionsverhandlungen zum Gegenstand von Sandkastenspielen der Parteiarbeitsgruppen wird.
Nach der vorschulischen Erziehung in der Kindertagesstätte und der Epoche der Wissensaneignung in der Schule folgt mit der Berufsausbildung die nächste Weichenstellung. Ich erinnere daran, dass 28 % aller Neuköllner Hartz- IV -Empfänger über keinen Schulabschluss verfügen und 67 % über keine Berufsausbildung. Konsequenterweise hat sich die Bundesregierung mit den Regierungschefs der Bundesländer in der »Qualifizierungsinitiative für Deutschland« 2008 das Ziel gesteckt, die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss bis zum Jahr 2015 auf 4 % im Bundesdurchschnitt zu halbieren und dies gleichermaßen bei den ausbildungsfähigen jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss von 17 % auf 8,5 % zu erreichen.
Es sind nur noch zweieinhalb Jahre Zeit. Im Jahr 2010 haben 6,5 % der Schüler keinen Abschluss erreicht (Ausländer 12,8 %). Der Anteil der Migranten im Alter von 25 bis unter 35 Jahren ohne Berufs- oder sonstigen Abschluss betrug rund 32 %. Ohne Migrationshintergrund waren es rund 9 %. Diese Werte noch einmal zur Wiederholung aus dem bereits zitierten Bericht der Bundesregierung. Der Anteil der Einwandererkinder, die in Neukölln ohne Abschluss die Schule verlassen haben, betrug im Jahre 2006 erschütternde 22 %, die sich bis 2011 auf 18 % vermindert haben. Die Berliner Werte liegen im gleichen Zeitraum mit 18 % und 14 % zwar etwas niedriger, aber immer noch weit vom Bundesdurchschnitt entfernt. Von den Zielwerten ganz zu schweigen.
Für Neukölln bedeuten die Prozentwerte in absoluten Zahlen ohne Differenzierung nach Herkunft rund 350 Schüler pro Jahrgang ohne Schulabschluss. Hinzu kommen etwa 700 Schüler mit Hauptschulabschluss, so dass allein in Neukölln gut 1000 von etwa 2500 junge Menschen jedes Jahr in ein Berufsleben entlassen werden, dessen Start mindestens mit Schwierigkeiten behaftet ist, ja für viele nicht stattfinden wird.
Aufgrund der demographischen Entwicklung gleichen sich die Ausbildungsplatzangebote und die Bewerberzahl immer mehr an. In Brandenburg gab es 2011 bereits mehr unbesetzte Plätze in Betrieben als junge Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen. Ende September 2011 registrierte die Bundesagentur für Arbeit bundesweit 30 000 offene Ausbildungsplätze für 12 000 unversorgte Bewerber. In Berlin ist die Nachfragesituation bisher nicht gekippt. In der Schlussphase für das neue Ausbildungsjahr 2012 standen noch 5000 Angebote für 7500 Bewerber zur Verfügung.
Im Juli 2012 bewarben die Industrie- und Handelskammer ( IHK ) und Handwerkskammer ( HWK ) 1500 freie Ausbildungsplätze mit intensiver Öffentlichkeitsarbeit. Die HWK bot sogar eine App an. Trotzdem konnten nur 350 Plätze besetzt werden. Der alljährlich letzte Versuch, Ausbildungswillige mit einer Anschreibe-Aktion doch noch zu erreichen, steht für 2012 noch aus. Allerdings stimmen die Ergebnisse aus den Vorjahren nicht überbordend optimistisch.
Im Jahr 2011 wurden bei der Last-minute-Aktion 1300 Suchende wie alljährlich angeschrieben. Es kam gut ein Viertel. Das war kein Novum, sondern entsprach den Erfahrungen vergangener Jahre. 2009 konnten bei der Nachvermittlungsaktion von IHK und HWK für 2000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz mangels Masse an Interessenten nur 60 Ausbildungsverträge geschlossen werden.
Die Fachwelt geht davon aus, dass inzwischen jeder fünfte Ausbildungsplatz unbesetzt bleibt. Dabei suchen die Unternehmen nicht den Super-Azubi. Deutschlandweit organisiert bereits jedes zweite Unternehmen eine betriebliche Nachhilfe, in Berlin sind es sogar über 60 %. Auch die Neuköllner Verwaltung hat sich mit einem Projekt »Zweite Chance« an bis dato gescheiterte junge Leute mit Migrationshintergrund gewandt. Wie im Kapitel »Das System Neukölln« geschildert, sind wir gescheitert. Die Defizite in den sozialen Grundkompetenzen waren einfach zu groß. Über solche Erfahrungen berichten mir immer wieder auch die Neuköllner Betriebe einschließlich der türkischen Friseurmeisterin und des arabischen Bäckermeisters. Es gibt in Neukölln freie Ausbildungsplätze. Dass jemand keinen Ausbildungsplatz erhält, kann sein. Es liegt dann aber nicht daran, dass es keine freien Plätze gäbe. Im
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