Neukölln ist überall (German Edition)
Anatolien. Dort wurden sie enteignet, ermordet oder vertrieben. Heute gilt Izmir als das religiöse und intellektuelle Zentrum der Aleviten in der Türkei. Ihr Anteil an der türkischen Bevölkerung wird auf 20 % geschätzt. Immer wieder wird berichtet, dass bis heute bekennende Aleviten diskriminiert und unter fadenscheinigen Gründen ihrer Ämter (sofern sie welche innehaben, und sei es auch nur die Leitung einer Schule) enthoben werden. Aus diesem Grunde ist es zumindest in der Türkei ausgesprochen unüblich, dass Aleviten ihren Glauben öffentlich zu Markte tragen.
Dieses wenn auch rudimentäre Wissen über Strömungen innerhalb des Islam ist für die Beurteilung der Muslime in Deutschland nicht ohne Belang. Die alevitische Gemeinde bezeichnet sich mit rund 600 000 bis 700 000 Angehörigen in Deutschland als die zweitgrößte muslimische Vereinigung nach den Sunniten. Alle anderen Glaubensrichtungen rangieren deutlich unter ihnen. Deshalb ist es aus meiner Sicht fahrlässig und wenig hilfreich, in Schriften oder Debatten von »den Muslimen« zu schreiben bzw. zu reden. Die Aleviten sind in ganz vielen Fällen unsere verlässlichsten und engagiertesten Partner im Integrationsprozess. Sie stets unter dem Sammelbegriff »die Muslime« zu subsumieren und damit gleichermaßen mitverantwortlich für Fehlentwicklungen zu machen, die aus den fundamentalistischen Glaubensrichtungen begründbar sind, führt jedoch immer wieder zur Verbitterung und Enttäuschung bei den Aleviten über diese Nichtwürdigung ihrer Leistung. Zumal man sie damit auch noch auf eine Stufe mit ihren Peinigern in der Türkei stellt. Thilo Sarrazin macht in seinem Buch diesen kapitalen Fehler ebenfalls.
Es ist schon eine starke Vereinfachung, wenn ich versuche, Menschen, die sich noch nie mit dieser Thematik beschäftigt haben, den Unterschied mit den Worten: »Das sind in etwa die Protestanten des Islam« zu erläutern. Offener, liberaler, lebensbejahend, tolerant und demokratiefähig. Gerade die letzte Eigenschaft ist die, die dem orthodoxen Islam bisher abgesprochen werden muss. Der Glaube an die Untrennbarkeit von Religion, Staat und Gesellschaft und die Reduzierung der Bedeutung des Einzelnen, der nur als ein Teil der Umma, der Gemeinschaft aller Muslime, eine Existenzberechtigung genießt, sind mit dem Grundprinzip eines demokratisch verfassten Staates, seiner Gewaltenteilung und der Unangreifbarkeit der Würde des Individuums nicht vereinbar. Mindestens an dieser Stelle hat der Islam seine Aufklärung und seine Reformation noch vor sich. Hinter dem immer wieder gebrauchten Begriff des »Euro-Islam« verbergen sich genau diese Erwartungen. Nach meinem Dafürhalten wird diese Entwicklung jedoch noch ein bisschen auf sich warten lassen. Die Rückkehr der Türkei zu eher konservativen Glaubenssichten und die Ablösung von Diktaturen durch zum Beispiel die konservative Moslembruderschaft in Ägypten deuten für mich nicht darauf hin, dass in dieser Region der Welt ein demokratischer Schnellzug Fahrt aufnimmt.
Die Betrachtung der weltweiten Entwicklung des Islam ist sicher wichtig, für die Bewältigung unseres Alltags und die Steuerung des Integrationsprozesses aber nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Hier müssen wir uns eher damit auseinandersetzen, wie weit wir den Ausbau von Brückenköpfen fundamentalistischer, ja teilweise fanatischer Glaubensrichtungen unter dem Schutzschirm der kulturellen Identität zulassen wollen und dürfen. Denn dass der Fundamentalismus zweifelsohne nicht nur in Neukölln, sondern berlinweit an Land gewinnt, hat sich nicht zuletzt 2012 bei der Neuwahl des Berliner Landesbeirats für Integrations- und Migrationsfragen gezeigt. Dabei haben sich einige strenggläubige konservative Migrantenorganisationen und Moscheevereine durchgesetzt. Die bislang im Beirat vertretenen nichtreligiösen liberalen Kräfte wurden bis auf eine Ausnahme abserviert. Hinter vorgehaltener Hand wird sogar von Manipulation und Mauschelei geredet.
Der Versuch gesellschaftlicher Landnahme durch Vitalisierung der Dogmen insbesondere im schulischen Alltag erfordert von unseren Schulleitungen enorme Aufmerksamkeit und eine nicht erlahmende Konfliktbereitschaft. Die Streitpunkte sind immer wieder der Biologie- und der Turnunterricht, das Schwimmen, Klassenfahrten, das Tragen von Kopftüchern bei vorpubertären Mädchen (unabhängig davon, wie man zum Kopftuch überhaupt steht). Es geht so weit, dass Erziehungs- und Lehrkräfte keine
Weitere Kostenlose Bücher