Neukölln ist überall (German Edition)
mit Schweinefleischprodukten belegten Pausenbrote in der Schule oder der Kita essen sollen. Denn wenn sie das tun und sich nicht die Hände waschen, sind sie unrein und beschmutzen beim Anfassen die Kinder. Dass sich kaum noch eine Cafeteria traut, neben schweinefleischfreien auch schweinefleischhaltige Produkte anzubieten, kann da nicht mehr verwundern. Eine Cafeteria, in der Schweinefleischprodukte verarbeitet oder angeboten werden, ist eben nicht halal, sondern haram. Im Extremfall überwachen »Religionswächter« (ältere, körperlich überzeugende Schüler) an der Tür, wer was kauft und isst. Natürlich mit den entsprechenden »beratenden« Hinweisen.
Nicht jede Schulleitung findet die Kraft, sich solchen Entwicklungen entgegenzustellen. Das gilt für die Leitung von Kindertagesstätten ebenso. Man muss kein Prophet sein, um zu der Aussage zu gelangen, dass dieser Kulturkampf auf Dauer nicht zu gewinnen ist. Die Kraft durchzusetzen, dass an einer Grundschule keine Kopftücher getragen werden und nach dem Sport geduscht wird, wohnt nicht jeder Leitung unbegrenzt inne. Es hat sich Resignation in unseren Einrichtungen ausgebreitet. Das hat seine Ursache natürlich auch in dem Umstand, dass wir unsere Lehrkräfte und unsere Erzieher in diesen sehr schwierigen Situationen des Alltags meist völlig allein lassen. Kommt es zu einem Konflikt, so endet er meist mit der Ansage an die Mitarbeiter, dass man mit ein bisschen mehr Kultursensibilität die ganze Aufregung hätte verhindern können. Eine Rektorin sagte mir resigniert: »Ich habe aufgehört, mir trotz 90 % Eltern im Hartz- IV -Bezug über den jeden Morgen vorfahrenden Wagenpark Gedanken zu machen.« Auch kommt es immer wieder vor, dass das Handtuch geworfen und eine Stelle in einem anderen Bezirk gesucht wird.
An dieser Stelle möchte ich über zwei andere bemerkenswerte Gegebenheiten berichten, die gar nicht besonders außergewöhnlich sind.
Bei einer Elternversammlung kam ein türkischstämmiger Vater auf mich zu und berichtete mir, dass er aus Neukölln fortzieht. Ich kannte ihn aus seiner beruflichen Tätigkeit. Auch seine Frau ging einer Erwerbstätigkeit nach. Seine Begründung lautete, dass seine Frau und er ihren Schlaf bräuchten und ihre Leistungsfähigkeit darunter leidet, wenn im Haus jede Nacht die Partys bis in den frühen Morgen gehen.
Bei einem anderen Elternabend unterhalte ich mich mit einem arabischstämmigen Ehepaar, das eine kleine Tochter an der Hand hat. Als ich das Mädchen anspreche, reagiert es nicht. Die Eltern erklären, das Kind könne mich nicht verstehen, weil es kein Deutsch beherrscht. Ich erfrage das Alter und gebe den Rat, dass ein 3-jähriges Kind in den Kindergarten gehört, um Deutsch zu lernen. Die Eltern stimmen mir im Prinzip zu, beklagen aber, dass in ihrer Wohngegend kein Platz frei sei. Ich biete an, einen Platz zu vermitteln, allerdings müssten die Eltern mit dem Autobus, der vor ihrer Haustür hält, etwa vier Stationen zum Kindergarten fahren. Die Eltern lehnen das Angebot höflich mit der Begründung ab, dass der Weg zu weit sei.
Solche Erfahrungen mache ich immer wieder. Ich habe ein nicht erlahmendes Helfersyndrom und empfinde durchaus Freude daran, hin und wieder Schicksal zu spielen. Ich glaube, das ist nicht ungewöhnlich bei Menschen, die in einer vergleichbaren Situation sind und Gelegenheit haben, hier und dort lenkend und problemlösend einzugreifen. Auch unterliege ich immer wieder der Versuchung, lauthals beklagte Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen in der Praxis zu hinterfragen. Ich gehe den Hinweisen von Großeltern und Eltern nach, dass ihre Enkel keinen Ausbildungsplatz bekommen oder dass ihre Tochter oder ihr Sohn am Arbeitsplatz ausgebeutet werden, keinen Urlaub erhalten oder Überstunden ohne Entlohnung leisten müssen. Ich biete meine Hilfe zur Bewältigung von Problemen bei der Einbürgerung an oder bin bereit, ungerechte Einzelfälle prüfen zu lassen.
Ich muss an dieser Stelle aber das Geständnis ablegen, dass es mir bei allen Versuchen, jungen Leuten zu einem Ausbildungsplatz zu verhelfen, beim Schulwechsel auf eine höhere Schule ein gutes Wort einzulegen oder bei einem vorhandenen Arbeitgeber zu intervenieren, nicht ein einziges Mal gelungen ist, meine Bemühungen zum Erfolg zu führen. Immer wieder erwiesen sich angebliche Leistungsbereitschaft oder Interessenbekundungen als hohle Phrasen. Wenn es ernst wurde, taten sich jeweils unüberwindliche Hürden auf, die es
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