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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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waren weiße Stufen in den Hang geschlagen, auch die sehr steil, solche, bei denen man besser die Hände mitbenutzte. An manchen Stellen wurde der Weg so schmal, dass man aufpassen musste, nicht in den Abgrund zu stürzen. Dazu hatte sie jetzt wirklich keine Lust, nachdem sie endlich wieder durchatmen konnte.
    Sie blieb einen Moment stehen, kam wieder zu Atem und hörte den Urubamba-Fluss im Tal unter sich, sah ihn aber nicht. Vielleicht würde sie ihn von der Festung aus sehen können.
    Dann ging sie durch einen Tunnel im Fels – alle Tunnel der Welt würden sie an die Fußgängerunterführung zum Kino auf dem Carmel erinnern –, der nahe am Eingang zur Anlage endete. Aus ihrem Pouch zog sie ihr boleto turístico , und der Wächter ließ sie ein. Wir schließen um sechs, erinnerte er sie, und sie war stolz, dass sie nach zwei Wochen Peru genügend Spanisch aufgeschnappt hatte, um zu verstehen, was er sagte. So wie jedermann mit zwei Ohren und zwei Beinen geboren wird, hat jeder auch zwei Muttersprachen. Diese Theorie entwickelte sie beim Aufstieg. Eine wird bei der Geburt aktiviert, die zweite nur, wenn das Leben uns an den Ort führt, an dem unsere Stief-Muttersprache gesprochen wird.
    Am Ende des Aufstiegs, auf der obersten Terrasse, erwartete sie das Areal für die Zeremonien und, darin, der Intihuatana, der Sonnenstein. Drum herum Gräben, in denen Wasser floss, und zwischen den Gräben kleine Tempel und Becken zum Untertauchen. Alles sauber, Ehrfurcht gebietend.
    Erstaunlich, wie sehr die Peruaner ihre Vergangenheit mitleben, dachte sie. Das Inkareich wurde vor fünfhundert Jahren von den Spaniern erobert, aber in den Herzen der Leute besteht es bis heute. Anfangs hatte sie den Verdacht gehabt, das alles sei nur eine Show für Touristen, doch mit jedem Tag verstand sie mehr: Die Inkazeit war der ganze Stolz der Leute hier. Daher auch diese Entschlossenheit in ihren Gesichtszügen, die völlige Abwesenheit von Servilität im Umgang mit Fremden.
    Sie streifte ein paar Minuten durch die Altertümer, beinah alleine, versuchte sich vorzustellen, wie es früher hier gewesen ist, da überkam sie der Drang, den Fluss zu sehen. Irgendwo musste es doch einen Aussichtspunkt geben.
    Ein nicht markierter Weg führte zu dem Felsabhang hinter der Festung. Den schlug sie ein, obwohl ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Zu beiden Seiten des Weges gab es merkwürdige Nischen, und sie öffnete den Reiseführer, um zu sehen, ob dort etwas stand. Ja, sie las, dies seien alte Inkagräber, die von Grabräubern geplündert worden waren. Wie sympathisch. Sie lief etwas schneller, bis sie die Spitze des Felsens erreichte, und schon einige Meter davor war sie sich sicher: Von dort aus würde sie den Fluss sehen.
    Er war breit, der Urubamba, der das ganze Heilige Tal durchzog, und seine Ufer waren sanft. Inbar setzte sich hin und lehnte sich an einen großen Felsen; starker Wind wehte, drang in ihre Kleider, in ihre Seele. Sie nahm die Schirmmütze ab, ihre Haare flatterten. Wolken trieben schnell am Himmel, wie in diesem Clip von Kate Bush. Die Sonne hinter ihnen schien unterzugehen.
    Das Wasser im Fluss wirkte rein und völlig klar. Gute Luft wehte aus dem Heiligen Tal herauf.
    Jetzt war alles vergeben.
    Sie wusste, das währte nur einen kurzen Moment, die inneren Aufrechnungen würden weitergehen, bis man starb –
    Aber beim Anblick des ruhigen Flusses empfand sie es so. Dass die Einsamkeit keine Angst mehr machte. Und dass alles, wirklich alles, vergeben war.
    *
    Sie vergab sogar einer Gruppe von Israelis, die etwa eine Stunde später in die einzige Bar in dem kleinen Städtchen kamen und sich viel zu laut unterhielten –
    Sie vergab der Dusche im Hostel, dass sie nur ein paar lauwarme Tropfen Wasser hergab, und die ohne Druck.
    Sie vergab auch ihrem Körper im Spiegel, vergab ihm für einen Moment. Sie war kein Skelett, ja, aber wen störte das.
    Sie lag nackt auf dem Bett und stellte sich vor, wie der Mossad-Agent mit den verkrampften Kiefern in der Bar des Städtchens erschien. Sein Nazi war bis hierher vor ihm geflohen, aber er war ihm auf der Spur. Er wollte nur kurz etwas in der Bar trinken und dann weiter, doch dann bemerkte er sie und ließ ihr einen Drink bringen, auf seine Rechnung, setzte sich neben sie, und sein Knie drückte an ihres, und er roch wahnsinnig gut, und er erzählte ihr, der Mann, den er suche, sei ganz in der Nähe, zwei Kilometer von hier, aber plötzlich sei er sich nicht sicher, ob er ihn umbringen wolle,

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