Neuland
riesige Kolonie. Auch in Toronto. Aber warum red ich von ihnen in der dritten Person? Schau dir unsre Familie an. Ich bin hier, du bist in Peru (und vielleicht auch schon ein Land weiter?), Papa ist mit seiner neuen Familie in Australien (ich finde es ein bisschen albern, dass ein Mann in seinem Alter noch ein Kind macht, aber lassen wir das. Ich weiß, dass du jede Kritik an ihm so empfindest, als wäre sie gegen dich gerichtet. Und sein Egoismus kratzt mich schon lang nicht mehr).
Ich würde schätzen, dass der Schreiber dieser Zeilen, die du mir geschickt hast, ein Israeli ist. Das ist der neue Wandernde Jude. Dass er das Englische als Sprache wählt, passt auch zu diesem Trend: Ich, so sagt der Schreiber, gehöre nicht zu einer kleinen Nation, ich bin Teil der großen, aufgeklärten Welt.
Es würde mich interessieren, ob ich da richtigliege. Berichtest du mir, wenn du ihn treffen solltest?
Ich freu mich, dass du mir schreibst. Nachdem du geflogen bist, haben alle hier gesagt, wie ähnlich wir uns seien, und ich empfand einen besonderen Stolz. Ja, Inbari, Stolz.
Ich glaube nicht, dass du »völlig durchgeknallt« bist (rede ich tatsächlich so?).
Ich glaube, du suchst deinen Weg. Das ist ohnehin eine schwierige Sache, und unter den spezifischen Gegebenheiten unserer Familie ist es noch schwerer. Erst jetzt, fünf Jahre danach, habe ich kapiert, dass ich nie mehr die sein werde, die ich war, bevor das passiert ist. Nach so einer Sache kehrst du nicht mehr zu dir zurück. Und noch mal ganz neu anfangen kann man auch nicht.
Gern würde ich dir helfen, Inbar. Dir mit Pfeilen und Papierschnitzeln den Weg zum Schatz des inneren Friedens markieren. Aber alles, was ich sage – auch wenn ich Recht habe, wie in der Sache mit der biologischen Uhr –, wird dich nur ärgern. So wie alles, was deine Großmutter mir gesagt hat, als ich in deinem Alter war, mich nur geärgert hat.
Vielleicht, trotzdem, eine Sache (»Ich wusste, du wirst dich nicht beherrschen können«, höre ich dich in diesem spitzen Ton sagen, in dem du mit mir redest): Schreib!
Du hast immer eine Neigung dazu gehabt. Nachdem das passiert ist, habe ich versucht zu schreiben, und es ist mir nicht gelungen. Die vielen Jahre des wissenschaftlichen Schreibens haben meine Quelle versiegen lassen. Sogar dieser Brief hier an dich, den ich grade noch mal ganz gelesen habe, hat etwas von dieser akademischen Trockenheit. Ich weiß das, aber wie ein Skorpion, der zustechen muss, kann ich es nicht lassen.
Ich hoffe, du liest das mit Verständnis,
Deine Mama
P.S.: Deine Großmutter macht mir Sorgen. Bei unserem letzten Telefonat wusste sie nicht mehr, wo sie wohnt und was für einen Wochentag wir haben. Ich hab sie gefragt, ob ich ihr eine Hilfe besorgen soll, da hat sie mich angeschrien, sie brauche mein deutsches Geld nicht. Red doch ab und zu mit ihr, Inbar. Auf dich hört sie.
Lili
Als Inbar sie anruft, will sie ihr von dem Telefonat mit ihrem Freund berichten, hat aber plötzlich seinen Namen vergessen. Eyal? Nein. Elia? Und während Inbar ihr erzählt, dass sie in ein paar Stunden Peru in Richtung Ecuador durchqueren wird, versucht sie, den Namen aus den Tiefen ihres Gedächtnisses heraufzuholen. Efraim? Elyashar? Alles hier ist sehr billig, erzählt Inbar, man kann auf der Straße für zwei Schekel ein Mittagessen bekommen. Es ist nicht gut, auf der Straße zu essen, sagt Lili in einem hellen Moment. Du weißt doch nicht, was es da für Bakterien gibt, Inbar. Es ist gesünder, wenn du zu Hause isst. Und am besten, bei dir zu Hause. Hier im Land.
In Ordnung, Omi.
Und dass du mir keine Drogen nimmst, verstanden? Ich habe in der Zeitung einen Artikel gesehen, dass die jungen Israelis, die herumreisen, alle Drogen rauchen. Und Drogen sind wie das Essen auf der Straße. Am Anfang ganz angenehm, aber später bezahlst du dafür, mit Zins und Zinseszins.
Guuut, sagt Inbar, und an der Art, wie sie das u in die Länge zieht, merkt Lili, dass sie mit ihr wieder wie mit einer alten Frau spricht, und deshalb fügt sie schnell hinzu:
Und wenn du trotzdem etwas nimmst und das Zeug wirklich gut ist, dann bring deiner alten Großmutter ein bisschen davon mit.
Inbar lacht. Kein Problem, und wie geht es dir so, Omilein?
Ganz in Ordnung für mein Alter und bei diesem Wetter unddafür, dass meine Enkelin nach Deutschland gefahren ist, ohne mir Bescheid zu sagen.
Tut mir leid, Omi. Ich hatte Angst, wie du reagieren würdest.
Ganz zu Recht. Aber darüber rechnen wir
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