Neuland
würde sich nicht gut als Hauptfigur eines Romans eignen. Sie entwickelt sich nicht. Ihre Dialoge sind nicht schlagfertig genug, und sie ist von Anfang an so gelöst, dass sie am Ende bei der Lösung des Knotens keine Rolle spielen kann. Im Grunde müsste man ein Gedicht über sie schreiben, doch bewegt sie sich die ganze Zeit.
Das hat ihr mal ein Schriftsteller gesagt, den sie getroffen hat. Er lebte in einem Wohnwagen und hatte einen Chauffeur, der ihn von einem Ort zum nächsten über den Kontinent fuhr. Er konnte nur schreiben, wenn er in Bewegung war, hat er ihr erklärt. Nur wenn sich die Landschaft hinter dem Fenster über seinem Arbeitstisch veränderte, nur dann sprudelten die Wörter aus ihm heraus.
Er hatte mit ihr schlafen wollen, dieser Schriftsteller. Hatte ihr ins Ohr geflüstert, sie dufte wie diese Tage, direkt bevor der Frühling ausschlägt, und Nessia hatte vielen Dank gesagt, wirklich vielen Dank, war etwas von ihm abgerückt und hatte ihm erklärt, Schriftsteller hätten für sie nichts Anziehendes. Alle bekämen schon ziemlich bald die Form ihres Schreibtischs, und immer habe man, wenn sie mit einem schliefen, den Verdacht, das sei Teil ihrer Recherche .
Inbar
In dem Moment, in dem sie Lima endlich verließ, hinaus in die offene Landschaft, löste sich auch ihr Atem. Wenn sie den Ausbruch der Joavi-Erinnerungen im Flugzeug und auch die Nacht des rasenden Herzens im Hotel überstanden hatte, so versuchte sie, sich selbst zu überzeugen, würde sie auch noch diese Fahrt überleben. In dem Touristen-Reisebus gab es Sitze, in denen man sich zurücklehnen konnte, eine Klimaanlage und kleine Bildschirme, wie in einem richtigen Flugzeug. Das Busticket kostete den durchschnittlichen Monatslohn eines Peruaners.
Kein Tourist in ihrem Alter. Alle entweder jünger oder älter. Sie war dazwischen. In dem Alter, in dem Leute Wurzeln schlugen und keine großen Veränderungen machten, keine gute Stelle aufgaben und nicht ganz alleine nach Südamerika reisten.
Der Platz neben ihr war frei. Auch als an den nächsten Haltestellen Leute einstiegen, setzte sich niemand neben sie. Den Jungen erschien sie vielleicht zu alt. Den Alten zu jung.
Ejtan könnte jetzt neben ihr sitzen, dachte sie. Sie würde sich an seine Schulter lehnen, er würde ihr Haar streicheln, und alles wäre weniger grell, angenehmer; sie könnte einschlafen, ohne von Nacktschnecken zu träumen, und hätte auch keine Angst, der Bus könnte in einen Abgrund stürzen oder in einen der Lastwagen rasen, die immer wieder viel zu plötzlich vor ihnen auftauchten.
Denn Inbar war nicht so eine tolle Heldin wie die Gestalt, die sie schrieb.
Nessia
schläft nicht mit dem Schriftsteller. Aber mit ihrem Chauffeur schon. Nein, sie ist nicht eine von denen, die das Körperliche vom Gefühl trennen, nur entwickelt sie einfach sehr schnell Gefühle. Esreicht ihr zu hören, wie der Chauffeur am Telefon einem Freund Mut macht, und sie öffnet ihm weit ihr Herz, geht zu ihm in die Kabine, legt ihre Hand auf die Innenseite seiner Schenkel und sagt, er solle rechts ranfahren.
Wie Nessia Liebe macht? Ohne zu überlegen, was die Leute sagen. Ohne an morgen zu denken, und ohne Ansehen von Person und gesellschaftlichem Stand. Wow, sagt der Fahrer nach dem dritten Mal. Wo bist du denn her? Von keinem bestimmten Ort, erklärt sie, ich ziehe die ganze Zeit herum. Und was ist das für ein Leben?, fragt er, klettert von ihr herunter, legt sich neben sie und schaut sie mit einem Blick an, der wirklich verstehen will (da weiß sie, sie hat sich in ihm nicht getäuscht).
Sie streichelt den Muskel seines Oberarms und erklärt ihm, wenn du unterwegs bist, wandern die Buchstaben deines Namens mit dir mit. Aber manchmal ist einer besonders müde und bleibt im Hotel, um sich auszuruhen. Dann bist du zum Beispiel einen ganzen Tag ohne dein N unterwegs. Wenn du herumziehst, sind deine Kindheitserinnerungen so real, dass eine davon sich plötzlich im Bus neben dich setzen kann. Wenn du herumziehst, lösen sich deine Schuhriemen öfter und auch die Riemen deiner Seele. Wenn du herumziehst, bist du die Brieftaube und auch der Brief in ihrem Schnabel – verstehst du das?
Nicht ganz, sagt er lächelnd, aber sprich weiter, das ist erregend.
Wenn du herumziehst – sie küsst ihn aufs Kinn, auf die Brust und noch weiter unten –, ist dein Verliebtsein-Spot, der Punkt, wo dein Verliebtsein sitzt, so erregt, dass du Gefahr läufst, dich sogar in eine Stadt zu verlieben. Wenn du
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