Neuland
ich nicht durchdreh. In Ordnung?
In Ordnung, sagte sie, doch die Verzögerung war so lang, dass er es nicht hörte und noch mal fragte: In Ordnung? Und sie antwortete wieder: In Ordnung. Dass sie es zweimal sagte, gab ihr aber das Gefühl, dass gar nichts in Ordnung war.
Brauchst du was?, fragte er gegen Ende des Gespräches. Soll ich dir etwas schicken, mit FedEx?
Nein, sagte sie, ich komm schon zurecht.
*
Zurechtkommen? Nicht nur, dass die Kleider, die sie nach Berlin mitgenommen hatte, nicht ausreichten, sie waren auch ungeeignetfür so eine Tour. Dort, wo sie hinfuhr, gab es keine Einkaufszentren, und so suchte sie sich ihre Garderobe unterwegs Stück für Stück zusammen. Eine Bluse von einem Marktstand, eine bunte Weste von einem Händler, der in den Bus kam, eine Hose, die ihr schöne Hüften machte, von einer kanadischen Studentin, die nach Hause fuhr und nicht für Übergepäck zahlen wollte. Für wen zog sie sich an? Das war nicht ganz klar. Für sich selbst, vielleicht. Und vielleicht auch für den Mossad-Agenten. Doch bisher hatte sie niemanden getroffen. Sie sprach kaum mit Leuten. Die gingen einfach alle so gar nicht. Nach dem Fiasko in Cuzco ging sie auch abends nicht mehr weg. Nicht trinken und nicht tanzen. Sie kehrte nur in ihr Zimmer zurück, schrieb und schrieb und legte sich hin.
Nessia
befindet sich nie im Ausland. Auch wenn sie in Kathmandu oder in Timbuktu ist, ist sie nicht im Ausland, denn um im Ausland zu sein, müsste es ein Land geben, das Inland ist, aber Nessia hat niemals ein Stück Erde gehabt, das sie anzog. Die Anziehungskraft zieht sie vorwärts und nicht nach unten.
Auf allen ihren Reisen hat sie immer zwei Exemplare des Buches Tao von Lao-Tse dabei. Eines für sich und das andere, um es dem ersten Mann, der ihr gefällt, zu geben, nachdem sie miteinander schlafen werden, und um ihn zu bitten, sich einen Satz darin auszuwählen und ihn mit dem Finger Buchstabe für Buchstabe auf ihren Hintern zu schreiben. Und aufgrund des Satzes, den er wählt, und der Art, wie sein Finger die Buchstaben auf ihre Haut schreibt, entscheidet sie, ob er ihr gut genug gefällt, um noch eine Nacht bei ihm zu bleiben.
Der Fahrer des Schriftstellers wählt den Satz: »Da er nach nichts strebt, kann er die Liebe ganz verwirklichen«, und während er ihn mit dem kleinen Finger auf eine Pobacke schreibt, beißt er leicht indie andere. So bleibt sie noch eine Nacht bei ihm, in der Kabine, und bittet ihn erst am nächsten Tag, sie unterwegs auf der Landstraße rauszulassen. Was?! Er protestiert, nachdem er angehalten hat, ich dachte, zwischen uns entsteht gerade etwas Echtes. Tut mir leid, sagt sie ehrlich. Warte, sagt er, versucht, sie am Zipfel ihres Mantels zu packen, … ich meine … wann … können wir … uns wiedersehen?
Doch sie ist schon unten, winkt ihm vom Straßenrand aus zu.
Auch der Schriftsteller hebt den Kopf von der Schreibmaschine und schickt ihr einen Luftkuss. Vielleicht hat er sie belauscht, als sie miteinander schliefen? Vielleicht hat er gelinst? Das würde sie nicht wirklich stören. Wenn es ihm gefällt, am Rand des Lebens zu stehen, statt mittendrin zu sein, dann ist das sein Ding.
Sie ihrerseits zieht weiter und gelangt nach ein paar Minuten an einen Scheideweg. Der Weg teilt sich hier in einen asphaltierten und einen Feldweg.
Sie wählt den Feldweg und marschiert los. Leichten Schrittes, als laufe sie in Hausschuhen durchs Wohnzimmer.
Inbar
marschierte den Weg entlang, der links von der Kirche in Pisac begann, im Heiligen Tal. Auf dem Kopf eine rot-blau-gelb karierte Schirmmütze aus dünnem Stoff. Schon als sie sie am Tag zuvor auf dem Hehlermarkt in Cuzco sah, hatte sie ihr Freude gemacht. Zu Hause hätte sie so etwas nicht gekauft, nur fromme Frauen tragen Hüte, aber in dem Moment, als sie sie aufsetzte, hatte sie gespürt (sie wusste, das war dumm, aber so fühlte es sich an), dass ihre Reise (und nicht nur Nessias) nun wirklich beginnen konnte.
Es war schon spät, die meisten Backpacker kamen den Weg herunter, aber sie begann ihren Aufstieg zur Inka-Festung auf der Spitze der Berges. Sie trug richtige Wanderschuhe mit dicken Sohlen. In ihrer kleinen Wandertasche eine Regenhaut, die man in ihren eigenen Ärmel stülpen konnte, ein besonderer Energie-Riegel mit Namen Alto , für Orte mit dünner Luft, und ein Plan, den man ihr an der Rezeption des Hostels gegeben hatte. Der Weg war steil, führte an Terrassen mit Sicht auf andere Hügel vorbei. Ab und zu
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