Neuland
und sie fragte: Warum? Und er blickte sich um, sah all die Israelis in der Bar und sagte, nicht hier, und sie gingen auf sein Zimmer, und ab dem Moment, als er die Tür hinter ihr schloss, gab es keine Dialoge mehr, ihre Hände lagen auf ihm und seine Hände auf ihr, seine Zunge war in ihrem Ohr, ganz tief, wie sie es mochte.
Erst als sie die Augen aufschlug, bemerkte sie an der Zimmerdecke die Zeichnung der Geige und eine vertraute Handschrift, die verkündete: The Wandering Jew Tour , darunter die Details: Firenze 1411, Toulouse 1457, München 1606, Paris 1777, London 1934, Rio de Janeiro 2004, Lima 2006, Pisac 2006 . Schon sonderbar. Verfolgte er sie, dieser Wandernde Jude? Oder war sie hinter ihm her?
Am nächsten Tag, in der Internetkabine in einem heruntergekommenen kolonialistischen Gebäude der Stadt, wandte sie sich an den einzigen Menschen, den sie kannte, der eventuell etwas davon verstand.
Hi Mama,
wie geht’s?
Ich bin schon zweimal auf etwas gestoßen, das dich interessieren könnte: Dinge, die der wandernde Jude geschrieben hat. Merkwürdig, nicht? Ich schicke dir zwei Bilder, die ich in Lima und in Pisac gemacht habe, beides Städte in Peru. Kann sein, dass das einfach ein Spinner ist, dem es Spaß macht, die Wände vollzuschreiben. Aber vielleicht ist das wirklich der Wandernde Jude, und es hat ihn von Europa nach Südamerika verschlagen? Was meinst du, Mama, kann das sein? Das hat doch mit deiner Doktorarbeit zu tun, nein? Schick mir eine Antwort an diese Mail-Adresse, ich mach sie ab und zu auf. Und bitte denk nicht, ich sei verrückt, weil ich gefahren bin (»jetzt ist sie völlig durchgeknallt«, höre ich dich zu Großmutter sagen, die dir bestimmt von meiner Reise berichtet hat, »das ist mal wieder typisch, abzuhauen, statt sich den Dingen zu stellen«). Ich weiß, Mama, es fällt dir schwer, das zu verstehen, aber versuch es, denn es ist genau das Gegenteil. Seit Joavi hab ich mich völlig verloren, und hier hab ich endlich das Gefühl, dass ich eine (kleine) Chance habe, wieder zu mir zu finden.
Hanna
Danke, dass du mir die Bilder geschickt hast , antwortete sie ihrer Tochter, es freut mich, dass du an mich gedacht hast .
Es gibt da größere Spezialisten als mich, aber wenn du mich fragst, ist das Erscheinen oder das Verschwinden des »Wandernden Juden« nie einfach eine »Spinnerei«.
Da es sich um einen Mythos handelt, um eine Legende, interessiert uns ja nicht eine objektive Wahrheit, ob es so einen Menschen gab, ob er wirklich an diesen Orten zu diesen Zeiten erschienen ist, sondern vielmehr, wie und in welchen Epochen der Geschichte der Mythos auftauchte und verbreitet wurde.
Die meisten Forscher stimmen darin überein, dass die »Erscheinungen« des Wandernden Juden (auf Deutsch heißt er übrigens der »Ewige Jude«) seit der Gründung des Staates Israel weltweit enorm zurückgegangen sind. Als sei mit der Schaffung einer nationalen Heimstätte für die Juden die Notwendigkeit für eine Geschichte geschwunden, welche ihre ewige Unbehaustheit hatte erklären sollen. Doch hinkt die Forschung den Ereignissen immer etwas hinterher, und es gibt auch von dem Kontinent, auf dem du dich gerade aufhältst, gar nicht wenige Zeugnisse, die ein Neuerwachen des Wandernden Juden im letzten Jahrzehnt belegen.
Wieso ausgerechnet jetzt?
Die konservative Deutung wird sich auf die Tatsache kaprizieren, dass die meisten der neuen Zeugnisse von sehr entlegenen Teilen des Globus kommen und es sich dabei um die ganz natürliche Verbreitung von Volkserzählungen handle.
Ich persönlich sehe das anders. Ich habe den Eindruck, dass die Welt mit der Zeit versteht, dass der Staat Israel an seiner Aufgabe gescheitert ist: Er hat der Welt das Judenproblem nicht abgenommen. Jetzt haben die zwar ein Zuhause, Gott sei Dank, aber der erste Haken daran ist: Sie machen immer noch Krach, diese Juden. Sie erobern die Nachrichtensendungen und lassen die Welt nicht in Ruhe mit ihren Krisen, mit den Krisen, die sie auslösen –
(Ich höre dich sagen, »Mama, genug mit diesem Selbsthass«, und dennoch, hier ist der zweite Haken an der Sache –)
Sie, ich meine die israelischen Juden, sind die ganze Zeit auf Wanderschaft. Kommen wie Schnecken aus ihrem Haus oder wie der Brigadegeneral aus seinem Bunker. Sie leben ein Wander-Gen aus, das ihrem genetischen Code eingeprägt ist. Obwohl sie doch eine Heimat haben. In Berlin gibt es Tausende von Israelis. In Paris gibt es Tausende von Israelis. In New York eine
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