Neuland
ich derjenige, der in solchen Situationen mit den Kunden redet, ihnen eine gute Mahlzeit zubereitet, sie umarmt, wenn’s sein muss. Aber bei Mister Dori … da weiß ich nicht so recht. Ich glaube, er hat jetzt lieber dich in seiner Nähe.
Sie nickte, stellte das Glas Tee auf ein kleines Tellerchen.
Bring ihm auch einen Keks, sagte er, als sie schon gehen wollte, und zog noch ein Beutelchen aus der Hosentasche. Kekse sind immer gut.
Sie machte das Beutelchen auf, legte den Keks auf das Tellerchen, bedankte sich bei Alfredo aus ganzem corazón und eilte zurück zu Dori.
Danke, sagte er, als sie ihm das Tellerchen auf den Tisch stellte.
My pleasure, sagte sie und bereute sofort ihre Wortwahl (wieso pleasure , sieht es so aus, als ginge es hier um pleasure ?).
Ich bin gleich durch, sagte er und drehte sich zu ihr um. Würdest du es auch lesen – bitte.
Bist du sicher? Ist das nicht zu persönlich?
Ich bin mir sicher, sagte er und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
Meni
Nach dem Glauben der Inkas ist ein weißer, bärtiger Gott (bevor ich mich auf Nuriks Wunsch rasiert habe, sah ich ihm ein bisschen ähnlich) das erste Mal hier erschienen, auf diesem heiligen Felsen, dem Puma-Felsen. Er hat die Sonne aus dem Wasser gezogen unddamit das Dunkel und die Verlegenheit, die bis dahin im Universum herrschten, vertrieben. Danach schuf er den Adam und die Eva der Inkas, Manko Kapak und seine Schwester-Mutter, Mama Huaca, die auch Mama Ocllo genannt wird, so beginnt im Grunde ihre Genesis.
Seit drei Tagen steige ich jeden Abend hier hinauf und warte, dass der »Baron Hirsch« sich mir entschlüsselt.
Was steckt in dieser längst vergessenen Geschichte der landwirtschaftlichen Farmen, die für die Juden aus Osteuropa in Argentinien gegründet wurden, und was soll ich daraus lernen?
Im Internet finde ich Fotos von Farmen des Barons Hirsch, damals und heute, an ganz verschiedenen Orten in Argentinien. Eine davon, mit ausgeblichenen Steinen und baufälligem Dach, kommt mir bekannt vor. Verdächtig bekannt. Zuerst verstehe ich nicht woher, und dann erinnere ich mich, dass ich diese Farm auf einer meiner Trank-Reisen auf der Suche nach Nurik gesehen habe. Das heißt, ich habe mich gesehen, wie ich auf dem Gelände herumlaufe. Aber noch immer verstehe ich nicht recht: Warum schickt Nurik mich dorthin, in die Vergangenheit?
Die Fähigkeit, einen Punkt zu machen, ist zu mir zurückgekehrt, Gott sei Dank. Das türkisfarbene Wasser, das Zwitschern der Vögel, die vollkommene Schönheit der Terrassenhänge und das Schreiben haben den Drang zu schreien betäubt. Der große Sturm schien vorüber, aber abgelöst wurde er von so einer Schalheit. Einer unangenehmen Abgestumpftheit, einem Leben ohne Liebe.
Erst am vierten Tag zog ein Boot über den See und zeichnete einen Pfeil, und erst dann hatte ich diese Vision:
Nicht in die Vergangenheit schickt Nurik mich, sondern in die Zukunft.
Egal was der Baron Hirsch mit diesen Farmen machen wollte, wichtig ist, was ich mit ihnen machen kann.
Heute, am zwanzigsten April zweitausendsechs um fünf Uhr früh, fing es an. Ein Vulkanausbruch von Ideen. Fieber. Das ist mir bei der Arbeit schon passiert, aber nie in dieser Heftigkeit. Ichlaufe mit einem Notizheft in der Hand zwischen den alten Überresten der Inka herum und schaue: Ziele, Vorgehensweisen, eine Struktur. Auf der Insel hier sind viele Leute. Vielleicht werd ich sie später noch brauchen. Jetzt formuliere ich für mich Grundsätze. Eigentlich formuliere nicht ich sie. Sie offenbaren sich mir so, als hätten sie schon immer in meinem Bewusstsein genistet. Ich sehe den Ort, den ich auf der Farm des Barons Hirsch aufbauen werde, bis ins letzte Detail. Ich stelle mir das nicht vor, ich sehe es. Sehe es, so wie ich Nurik mithilfe des Trankes gesehen habe. Ich sehe voraus. Sogar welche Farbe die Klobrille der Toilette haben wird, wie die Wege angelegt sind, wohin die Leute nach der Hachschara geschickt werden und wie viele Betten in jedem Zimmer stehen. Ich notiere jedes Detail und übertrage es nachts in eine zweite Datei, neben diesem Tagebuch. Und ich mache ein bisschen Ordnung. Meine Finger rennen pausenlos über die Tastatur. Kühn bin ich jetzt. Endlich verstehe ich die Krankheit und weiß, was die Medizin ist. Ich bin wieder Meni Peleg, ganz der Alte. Nein, ich bin ein anderer Meni Peleg, ein Meni Peleg, der einen Ruf bekommen hat. Wie ein Taxifahrer, der einen Ruf mit einer ganz genauen Adresse bekommt, die er so schnell
Weitere Kostenlose Bücher