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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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wie möglich anfahren muss. Also beeile ich mich. Den Trank nehme ich nicht mehr. Ich höre auch keine MiGs mehr. Und ich will nicht mehr sterben.
    *
    Heute, am zweiundzwanzigsten April zweitausendundsechs, kam mir plötzlich der Name in den Sinn. Auf einmal wusste ich ihn einfach. Und ich wusste auch, dass ich in großen Lettern über das schlichte Holztor am Eingang schreiben würde, was Herzl ans Tor seines Judenstaates schreiben wollte: »Mensch, du bist mein Bruder.«

Dori
    Der Mann, der dieses Tagebuch geschrieben hat, weiß viel Persönliches über meinen Vater, dachte Dori, während Inbar las, aber er ähnelt ihm so gar nicht –
    Was genau habe ich erwartet? Er hadert mit sich. El Loco hat es dir doch ausdrücklich gesagt. Ja, aber ich dachte, das sei nur eine Episode, ein Anfall, nachdem er wieder mein Vater sein würde.
    Und was, wenn ebendas dein Vater ist? Dori zitterte. Und der, von dem du dachtest, er sei dein Vater, war die ganze Zeit nur ein Sack voll Lügen, eine Illusion, ein Jakob, der sich als Esau ausgibt?
    *
    Hast du überprüft, ob es nicht vielleicht noch eine Datei gibt, in einem anderen Ordner?, fragte Inbar, nachdem sie das Tagebuch zu Ende gelesen hatte.
    Ich habe alle Ordner durchgeschaut, sagte Dori, schüttelte den Kopf zu lange, als sei er in dieser Bewegung stecken geblieben, und habe nichts gefunden. Die Datei mit seiner Vision hat er wohl mitgenommen.
    Bist du okay? Du siehst sehr blass aus.
    Wirklich?
    Komm, wir gehn raus, schlug sie vor, ein bisschen Luft schnappen.
    Sie gingen auf den Holzbalkon, der auf den See blickte. Es war kalt. Wasserfälle stürzten in Felsspalten nach unten. Eine Herde Alpakas zog an ihnen vorüber, mit Reisigbündeln auf den Rücken. Hinter ihnen her liefen die Hirten, ein Knabe und ein junges Mädchen. Geschwister? Verliebte? Danach kam eine Herde strohbeladener Esel. Die ganze Zeit brachte auf dieser Insel jemand etwas von einem Ort zum anderen. Der kalte Wind legte das Antlitz des Sees inviele Falten. Wie Fingerabdrücke, dachte Inbar, und dieser Gedanke wanderte zu Dori, ohne dass sie ein Wort wechselten.
    Auch mein Vater war im Jom-Kippur-Krieg, sagte Inbar nach mehreren Minuten Schweigen. Aber soweit ich verstanden habe, war er nicht an der Front. Das »Feuer« ist nicht bis zu ihm gekommen. Trotzdem hat er sich nach dem Krieg Protestbewegungen angeschlossen, hat ein Zelt gegenüber der Knesset aufgebaut und da einige Wochen lang mit Motti Aschkenasy gesessen und demonstriert.
    Noch nicht mal das hat mein Vater getan!, brach es aus Dori heraus. Er hat in keinem Zelt gesessen und auch kein Transparent gehalten. Und jetzt, dreißig Jahre später, erinnert er sich plötzlich daran, dass er ein Trauma hat?
    Kann schon sein … vielleicht ist es einfach das erste Mal seither, dass er Zeit hat innezuhalten und nachzudenken.
    Ich weiß nicht, was soll dieser ganze Quatsch, »Medikament«, »Krankheit«, »Vision«. Für wen hält der sich eigentlich? Für den Messias?
    Dori stand mit einer kantigen Bewegung auf und begann, quer über die Terrasse zu gehen, wie ein Detektiv, der versucht, gleich mehrere Rätsel zu knacken: Die Metamorphose, die sein Vater durchlaufen hatte, das Rätsel dieses Ortes, den er errichten will, und nicht zuletzt das Rätsel seiner eigenen Gefühle: Wie kam es, dass er, statt sich um seinen Vater zu sorgen, wütend auf ihn war, vor Wut geradezu schäumte. Dieses Tagebuch müsste ihn doch eher beunruhigen. Mit dem Menschen, der das geschrieben hatte, stimmte etwas nicht, und zwar sehr tiefgehend. Der Mensch, der das geschrieben hatte, lief Gefahr, im Hurrikan seiner Seele den Halt zu verlieren und den Weg hinaus nicht mehr zu finden. Der Mensch, der es geschrieben hatte, hinterließ dieses Tagebuch als Wegzeichen, er bat, er flehte: Folge mir, lieber Leser. Finde mich. Rette mich vor mir selbst.
    Warum wollte er ihn dann bloß anschreien?
    Ich krieg keine Luft, sagte er, hielt an und legte sich die Hand auf die Brust. Ich atme die ganze Zeit ein, aber ich krieg keinen Sauerstoff. Es gibt hier keinen Sauerstoff. Spürst du das auch?
    Setz dich ein bisschen, Dori.
    Sie legte ihm die Hand auf den Rücken. Wir sind auf einer Höhe von viertausend Metern. Und du willst jetzt nicht wirklich die Höhenkrankheit kriegen.
    Merkwürdig, sagte Inbar, nachdem er sich hingesetzt hatte und wieder ein bisschen zu sich gekommen war.
    Was ist merkwürdig?
    Dass wir erst heute früh, als wir auf den Treppenstufen saßen, vom Baron Hirsch geredet

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