Neuland
helfen, einander loszulassen. Und diese Reise endlich zu Ende zu bringen.
Ich würde es verstehen, wenn Du das ausschlägst, Señorita. Und dennoch –
Dein, Dori
I
Jerusalem, ein Monat zuvor
Dori
Ein Glück, dass es Nacht ist, denkt er sich auf der Schwelle von Netas Zimmer. Wenn es ein Tagflug wäre, hätte er sich den Jungen mit aller Kraft von den Hüften reißen müssen. Es war schon einige Male vorgekommen, dass er nicht aus dem Haus gegangen war, weil er Netas Weinen nicht ausgehalten hatte. Und die anderen Male war der Junge auf den hohen Plastikstuhl geklettert, hatte eigenhändig das Fenster, das auf die Straße hinausgeht, aufgemacht und geschrien, dass alle Welt es hören konnte, geh nicht, Papa, geh nicht, als ginge sein Vater nicht nur zum Basketball, sondern verließe das Haus für immer.
In den letzten Tagen, während der Reisevorbereitungen, hatte er aus ganzem Herzen gehofft, dass er nicht fahren müsste. Dass seine Schwester Ze’ela und ihr Geschiedener, Aviram, im letzten Moment doch noch zur Vernunft kämen und gemeinsam einen Weg finden würden, den Hass und die Verletzungen aus ihrer hässlichen Trennung für ein paar Wochen beiseitezuschieben, damit Ze’ela selbst fahren könnte. Sie ist schließlich immer Papas Tochter gewesen, er dagegen war Mamas Sohn, nach dieser nie ausgesprochenen Aufteilung, die in Familien herrscht. Sie hatte auch mit ihrem Vater, seit er gefahren war, ständigen Kontakt gehalten.
Aber das ist nicht passiert. Sein Koffer wartet schon bei der Tür, und der Taxifahrer hat angerufen und gesagt, er komme etwas früher, wegen eines Staus an der Zufahrt zum Flughafen.
Er geht ins Zimmer. Auf dem Boden Netas kleine Schuhe, ein verirrter roter Legostein und Bob, der Mann auf dem Mond, das er ihm vor dem Einschlafen vorgelesen hat. Danach haben sie das Buch »ausgemacht«, und er hat sich neben Neta gelegt, seinen langen Körper neben den kurzen. Weißt du noch, dass ich morgen fahre?, hat er gefragt. Bist du zu meinem Geburtstag wieder da?, wollte Neta wissen. Ich geb mir Mühe, antwortete er. Versprich mir, dass du dann da bist, forderte Neta. Ich verspreche, dass ich mich bemühe, da zu sein, sagte er vorsichtshalber, obwohl er im Grunde glaubte, dass Ze’ela es mit ihren Sorgen übertrieb und seine Reise gar nicht lange dauern würde. Uff, Papa, sagte Neta, und Dori wartete angespannt auf den nächsten Ausbruch, die unter der Decke strampelnden Beine, die kleinen, aufs Kissen trommelnden Fäuste, die Augen, die zwischen den Fingerchen seiner vors Gesicht gehaltenen Hände hindurchschauen.
Doch war Netas Müdigkeit, Gott sei Dank, wohl stärker als seine Wut, und er schloss die Augen, und Dori streichelte seinen Kopf in langsamen spiralförmigen Bewegungen durch das feine Haar, bis er hörte, dass sein Atem in Schlafatem überging.
Jetzt betrachtet er ihn wieder. Wie hübsch der Junge ist. Und wie sehr seine Schlafposition trügt. Auf dem Rücken, die Arme seitlich ausgestreckt, großzügig. Man könnte denken, er wäre ein fröhliches Kind.
Er beugt sich zu ihm hinunter, küsst ihn auf die Stirn, nur flüchtig, um ihn nicht aufzuwecken. Noch einen auf die Wange, und noch einen auf die andere.
Er hat keine Lust zu fahren. Er mag einfach nicht. Er möchte seine Nase nur immer tiefer in diesen Geruch vergraben, den Geruch von Ohne-Tränen-Shampoo und einem schon einige Nächte lang benutzten Schlafanzug, in dem man den Weichspüler aber noch riecht, von warmer Milch mit einem Löffel braunem Zucker, die Neta vor dem Schlafen trinkt, und einem Hauch Parfüm von Mamas Gutenachtkuss.
Wieder ruft der Fahrer an. Er stehe schon unten auf dem Parkplatz und habe sich erkundigt, was der Grund für den Stau an der Einfahrt zum Flughafen sei. Eine Warnung wegen eines Anschlags. Deshalb werde jedes Fahrzeug gründlich untersucht. Er solle sich also wirklich beeilen. Eine Minute, verspricht Dori.
Er tritt aus Netas Zimmer ins Licht, holt aus der Tasche die Liste, die Roni in ihrer schönen Handschrift geschrieben hat. Alle Punkte hat er schon unterstrichen, als Zeichen, dass er die Sachen eingepackt hat, und dennoch hat er das Gefühl: Etwas fehlt. Er prüft noch einmal die üblichen Verdächtigen: Pass, Flugticket, Impfpass, Sonnenbrille, Geschichtsbuch, einige Fotos seines Vaters. Danach geht er ins Schlafzimmer und findet Roni vergraben in ihre Decke. Nur eine Locke guckt heraus. Als sie die ersten Male im selben Bett schliefen, in der Wohnung in Nachla’ot in
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