Neuland
Klezmatics waren fast alle melancholisch, dann wurden Gitarre, Bass und Schlagzeug stärker, und auch die Klarinette, die bisher hauptsächlich geweint hatte, begann zu lachen. Sie schmiss sich weg vor Lachen. Inbars Mutter trommelte sich vorsichtig mit ihren langen Fingern aufs Knie, als begleitete sie die Klarinette am Klavier. Ein paar junge Berliner standen auf und tanzten im breiten Gang zwischen den Bankreihen. Inbar tanzte auch, an ihrem Platz. Wie könnte sie anders, bei einer Klezmerband aus Brooklyn … in einer Kirche … und dazu noch in Berlin. Freiheit – Gleichheit – super Rhythmus. Sie schwang die Hüften und brachte dabei die ganze Bank zum Beben, auf der sie saß. Beim nächsten Stück, das wirklich zum Hüpfen war, ließ sie die Bank so richtig wackeln.
Eine ältere Frau, die links von ihr saß, wandte sich plötzlich zu ihr und schrie sie auf Deutsch an.
Das war kein Schrei, es war ein Kreischen, dass einem das Blut gefror. Verroht.
Die Leute drum herum ignorierten, was geschah, und man sah, wie sehr sie ihre Halsmuskeln anspannten, um sich nicht umzudrehen.
Ihre Mutter flüsterte ihr ins Ohr, die Frau bitte sie, mit dem Gewackel aufzuhören, man könne ja nicht ruhig auf der Bank sitzen.
Inbar hielt inne. Dann richtete sie sich auf und schaute der Schinderin direkt in die Augen. Ich lass mich nicht wie Vieh zur Schlachtbank führen, dachte sie. Ich bin bereit, nicht mehr zu wackeln, aber kein Deutscher schreit mich an, ohne mit einer entsprechenden Reaktion von mir rechnen zu müssen.
Zwischen Inbar und der Schinderin begann ein Augenkampf. Auf dem Gymnasium hatten sie das öfters gemacht, im Winter. Wenn sie wegen des Regens nicht auf den Schulhof konnten, hatten sie sich im Klassenraum einander gegenübergesetzt und sich angestarrt und gewartet, wer als Erster nachgab.
Die Schinderin gab als Erste nach. Sie senkte ihre graublauen Augen, flüsterte ihrem Mann einen ganzen Schwall Beschwerden zu und tauschte mit ihm den Platz.
Sowas hätte in Israel nicht passieren können, sagte Inbar zu ihrer Mutter, nachdem die drei Zugaben vorüber waren und sie aus der Kirche auf die Straße traten. Ihre Mutter reagierte nicht, und Inbar erinnerte sich und wechselte auf die andere Seite, wo ihre Mutter besser hörte. In Israel hätte das nicht passieren können.
Da hast du Recht, sagte ihre Mutter. Die Offenheit hier in Berlin, die ist wirklich absolut ungewöhnlich. Hast du gesehen, wie der Pfarrer bei der letzten Zugabe mitgesungen hat?
Nicht das habe ich gemeint, Mama, sagte sie und blieb stehen. Ich meine das Kreischen von dieser Frau. Was sollte das bitte?
Aber Inbar, du hast … du hast doch wirklich die ganze Bank zum Wackeln gebracht.
Ich glaub’s ja nicht! Du rechtfertigst die auch noch?! InbarsStimme hatte am Rand bereits einen Sprung (genauso wie früher, wenn ihre Mutter zu Joavi gerannt war, um ihm zu helfen, und sie ausgeschimpft hatte, ohne überhaupt zu klären, wer angefangen hatte, und wie schnell hatte Joavi gelernt, das auszunutzen und zu weinen, auch wenn Inbar ihn überhaupt nicht angefasst hatte, bloß damit die Mutter sie ausschimpfte. Immer hatte ihre Mutter gnädig auf alle seine so berechnenden Gaben geblickt, auf all die infantilen Bilder, die er für sie malte, aber auf ihren zwar stummen Schrei nach Aufmerksamkeit hatte sie nie reagiert; immer hatte Mutters Gesicht freudig gestrahlt, wenn er nach Hause kam; sie war für ihn zur Tür gerannt, als hätte sie überhaupt keine Probleme mit den Knien, aber wenn Inbar nach Hause kam, begrüßte sie sie nur aus der Ferne, von da, wo sie gerade saß; und sie war Joavi in jeden noch so abgelegenen Winkel des Landes, in den sein Wehrdienst ihn verschlug, nachgefahren, um ihm Fertigessen zu bringen, denn Mama-Essen konnte sie ja nicht zubereiten, aber Inbar hatte sie kaum mal besucht, und wenn, dann immer mit diesem enttäuschten Zug um die Mundwinkel, weil ihre Tochter nur Feldwebel und Ausbilderin war, und nicht Offizierin, Agentin oder Programmiererin bei der Einheit für elektronische Datenverarbeitung, etwas, was sie ihren Kolleginnen an der Uni laut und stolz hätte erzählen können, und nicht nur halblaut, denn damals konnte man ja nicht wissen, was passieren würde, es ist ja nicht so, dass sie damals schon gewusst hätte, was passieren würde, sie war einfach –).
Ich rechtfertige sie ja nicht, sagte ihre Mutter mit beherrschter Stimme, an deren Rändern sich schon Gewitterwolken zusammenzogen … ich sage nur
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