Neuland
während der Schoah gemacht?
Wie bitte? … Wie kommst du denn jetzt …? Da war er ein Kind. Er war drei Jahre alt.
Und sein Vater? In welchem Lager hat der gearbeitet?
Sein Vater ist an einer Krankheit gestorben, als Bruno zwei Jahre alt war. Und seine Mutter war Schusterin. Die einzige Schusterin in ganz Berlin. Nicht alle Deutschen waren … Nazis, Inbar.
Aber sie waren alle hier, in der Nazizeit, oder? Inbar ließ nicht locker.
Ihre Mutter biss sich auf die Lippen. Das Wasser des Kanals floss außerordentlich langsam. Ein Stückchen Holz, das Inbar verfolgte, bewegte sich kaum von der Stelle. Sie und auch ihre Mutter dachten an dieselbe Frau, hüteten sich aber, sie zu erwähnen, wie jemand, der darauf achtet, nicht die weniger guten Viertel einer Stadt zu betreten, und schweigend gingen sie weiter bis zur Siegessäule.
Ihre Mutter fotografierte sie vor dem Denkmal. Versuch doch, ob du mich zusammen mit der Else draufkriegst, sagte Inbar. Und die Mutter entfernte sich etwas, kam wieder näher, entfernte sich wieder, hielt den Fotoapparat waagerecht, senkrecht, und dann wieder waagerecht, um den Wunsch ihrer Tochter zu erfüllen. Danach hielt sie mit einer kleinen Handbewegung eine junge Japanerin mit zielstrebiger Nase an und bat sie, sie beide zu fotografieren, und stellte sich neben ihre Tochter. Ohne sie zu berühren.
Er hatte sich in eine Trapezkünstlerin aus dem Zirkus verliebt, erinnerte sich Inbar. Das war der Grund, warum der Engel von Wim Wenders beschloss, seinen Job aufzugeben. Er wollte berühren und berührt werden.
Die Japanerin gab ihnen den Fotoapparat zurück, und gleich einen Zettel dazu: Einladung zu einem Konzert der Klezmatics aus New York, in einer Kirche in Kreuzberg: »Jüdische Klezmermusik mit einem Touch modernem Jazz – Erstaufführung in Berlin!«
In Israel käme ich nicht darauf, mir Karten für so eine Vorstellung zu kaufen, dachte Inbar. Aber jetzt bin ich im Ausland. Komm, da gehn wir hin, sagte sie zu ihrer Mutter.
Aber das ist heute, sagte ihre Mutter und zeigte vorwurfsvoll auf Datum und Uhrzeit.
Na und?
Das schaffen wir nicht … wir müssen doch noch nach Hause … uns frisch machen. Bist du denn nicht müde?
Ein bisschen, aber das macht nichts. Und du musst dich frisch machen? Ich finde, du siehst noch ganz frisch aus.
Aber was du anhast, das reicht nicht für den Abend, meine Liebe, Berlin ist nicht Tel Aviv. Dir wird kalt werden.
Wie nervig, dachte Inbar, wie nervig ihr feiner Egoismus ist, der sich als Sorge um den andern tarnt.
Wenn du keine Lust hast hinzugehen, sagte sie, dann sag es doch, Mama. Und tu nicht so, als sorgtest du dich um mich.
*
Die Kirche war klein, doch ihre Kuppel, aufwendig erhellt, leuchtete weithin; auf den Treppen standen Leute mit Biergläsern in der Hand. Über dem Portal ein Transparent mit dem Namen des Radiosenders »Multikulti«. Das ist ein öffentlicher Sender, der vom Staat unterstützt wird, erklärte Inbars Mutter, ohne dass sie danach gefragt hätte; sie fördern in ganz Deutschland die Multikulturalität. Drinnen standen lange Kirchenbänke, und ganz vorne eine kleine, erhöhte Bühne. Jesus überblickte das Ganze von dicht unter der Decke; Inbar meinte, in seinen Augen eine gewisse Zufriedenheit zu erkennen. Wo ist die Kasse?, fragte ihre Muttereinen Ordner. Man gibt am Ende der Vorstellung, so viel man will, je nachdem, wie es einem gefallen hat, erklärte der Mann; er sah selbst wie ein Musiker aus. Klingt ein bisschen nach Ausrede bei einem Auftritt von Laienmusikern, dachte sich Inbar, doch schon beim ersten Stück, das die Klezmatics spielten, begriff sie, dass sie falschlag. Ein bärtiger Klarinettist mit Kippa erschien auf der Bühne und teilte den Kirchenraum mit einem Ton, der sowohl hell als auch traurig und sehr jüdisch war. Danach kamen die anderen Musiker dazu, langsam wurde das Klagelied versöhnlicher. Inbar schaute sich um. Sie sah, die Reihen hatten sich gefüllt. Gestern noch habe ich in Tel Aviv mit Ejtan eine Dreiviertelstunde lang einen Parkplatz gesucht, dachte sie, und heute bin ich hier. In einem Klezmerkonzert. In Berlin. Mit meiner Mutter. Die Welt ist schon verrückt, und wunderbar.
Freiheit! – Gewaltige Freude pulsierte plötzlich in ihren Adern (sie hatte schon vergessen, wie weit ihre Emotionen ausschlugen, wenn sie einmal außer Landes war: Wenn sie sich freute, war es gleich eine Heidenfreude, und wenn sie einsam war, dann abgrundtief wie das Meer).
Die ersten Stücke der
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