Neuland
Fußsohlen hinauf zu den Knien, in die Hüften, bis in den Nacken und die Augenlider. Sogar dieser ganz besondere Punkt in ihrer Brust, der immer »Joavi-Joavi« blinkte, wie ein Leuchtturm im Dunkeln, war etwas schwächer geworden.
Inbar! Sie hörte die Stimme ihrer Mutter von hinter der Tür. Bist du so weit?
Uff, murmelte sie, schaute auf ihr Handy, um zu sehen, wie spät es war. Was sollte diese neue, diese deutsche Angewohnheit ihrer Mutter, pünktlich zu kommen?
*
Ich hab gerade deine Sendung gehört, sagte ihre Mutter.
Sie gingen nebeneinander in Richtung S-Bahnhof. Ich höre sie jeden Tag im Internet. Heute war es langweilig, man spürt, dass du nicht da warst.
So ein Quatsch, sagte Inbar, so wichtig bin ich da auch nicht. Wirklich, beharrte ihre Mutter, die Leute, die sie in die Sendung durchgestellt haben … es war, als hätte man sie nicht richtig ausgesucht. Und auch Dr. Adrian … ich weiß nicht. Er klang etwas blass ohne dich. Es gab nur ein interessanteres Gespräch mit einer Mutter, deren Sohn schon fünfzehn Jahre nicht mit ihr gesprochen hat und der jetzt plötzlich Geld von ihr verlangt, um …
Mama! Inbar unterbrach sie. Ich will das nicht hören. Das ist einer der Gründe, warum ich hier bin. All diese Geschichten … diese Leute, die in die Sendung durchgeschaltet werden … ich brauche auch von denen ein bisschen Abstand.
Gut, in Ordnung, ich wollte ja nicht … wollte nur sagen, dass sie am Ende der Sendung deinen Namen genannt haben, obwohl du gar nicht da warst. »Produktionsassistentin – Inbar Benbenisti«, hat Dr. Adrian gesagt.
Wohin fahren wir? Inbar wechselte das Thema. Wenn ihre Mutter weiterredete, würde sie ihr noch erzählen, was in der Sendung vor ein paar Wochen passiert war, und sie hatte jetzt nicht die Kraft, sich verurteilen zu lassen. Ohnehin quälte sie schon einen Monat lang die Stimme ihrer Mutter; sie hatte sie verinnerlicht, als hätte man ihr einen dieser Chips implantiert, wie in Science-Fiction-Geschichten den Sklaven.
Sie standen am Bahnsteig. Inbar stellte sich rechts neben ihre Mutter, da war ihr gutes Ohr. Das andere war verstopft, seit Joavi. Ein Mann mit einem Hund an der Leine bot ihnen eine Zeitung zum Kauf an, und ihre Mutter holte Geld heraus und bezahlte. Das ist eine Zeitung von Obdachlosen, erklärte sie ihr mit Anerkennung in der Stimme. Sie wollen keine Almosen, deshalb produzieren sie selbst eine Zeitung. Das ist doch eine schöne Idee, oder?
Inbar fand, für den Hund eines Obdachlosen war der Vierbeiner viel zu gepflegt, aber sie sagte nichts. Ihr fiel ein, dass sie die ersten Stunden in einer neuen Stadt am liebsten alleine verbrachte, spazieren ging, ohne erklärtes Ziel.
Aus dem Tunnel hörte man das Geräusch, mit dem sich die S-Bahn ankündigte. Ich denke, wir fangen mit den zentralen Orten an, sagte die Mutter, nachdem sie eingestiegen waren. Brandenburger Tor, Alexanderplatz, Reichstagsgebäude. Danach nehmen wir vielleicht die U-Bahn nach Kreuzberg. Das ist das Viertel der türkischen Arbeiter und der Künstler. Ich glaub, es wird dir gefallen. Da kann man auch schön Kaffee trinken.
Kaffeetrinken, dachte Inbar, dann müssen wir reden, und wenn wir reden, dann wird sie mir sehr konkrete Fragen stellen, und auf die werd ich antworten müssen.
Die Zugfenster waren übersät von eingeritzten ballonartigen Buchstaben. Wohl auch eine Art Graffiti. Farblos, nur ins Glas geritzt. Wogegen protestieren die hier überhaupt?, fragte sie sich.
Durch den Lautsprecher kam eine sehr lange Ansage auf Deutsch. Sie wollte ihre Mutter fragen, ob man die Juden jetzt bat, am nächsten Bahnhof in den Zug nach Theresienstadt umzusteigen. Aber sie beherrschte sich. Der Ansager gab weitere Anweisungen, und für einen Moment ging Inbar eine Szene aus einem Sexfilm durch den Kopf, Bruno und ihre Mutter schliefen miteinander (sie oben), und er flüsterte ihr Koseworte in dieser Sprache ins Ohr. Dieses fiese Bild löste in ihrem Bauch einen leichten Brechreiz aus, der durch das Rattern der S-Bahn noch stärker wurde.
Komm, sagte ihre Mutter zu ihrer Erleichterung, hier steigen wir aus.
Das ist der neue Bahnhof, der Hauptbahnhof, erklärte sie, während sie die große Station durchquerten. Der ist vor einem Jahr eingeweiht worden. Bevor die Mauer fiel, gab es hier zwei Bahnhöfe, einen im Osten und einen im Westen. Nach der Wiedervereinigung haben sie einen neuen Bahnhof gebaut. So haben sie es mit allen wichtigen Gebäuden gemacht. Gleich wirst
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