Neuland
und dem Gefühl, eine mögliche Gelegenheit verpasst zu haben (am Tag nachdem ihr die Zusammenhänge klar geworden waren, hatte Dr. Adrian ihr ausrichten lassen, er fühle sich nicht gut, und Jishar hatte stattdessen eine Auswahl aus früheren Gesprächen gesendet und sie schon früher nach Hause geschickt, und schon vor der Wohnungstür hatte sie die Stimme einer jungen Frau aus ihrer Wohnung gehört, worauf sie, selbst erstaunt, weder mit Überraschung noch mit Wut reagierte, und als sie die Tür aufmachte und sah, dass es sich bei der jungen Frau um eine Interviewerin des Zentralamtes für Statistik handelte, der Ejtan gelangweilt, aber geduldig auf ihre Fragen antwortete, war sie beinah enttäuscht gewesen, als hätte sie sich insgeheim eine Eifersuchtsszene gewünscht oder die Rache nach dem Grundsatz »Auge um Auge, Schwanz um Schwanz«, die gewiss darauf folgen würde, und auch das wollte sie auf dieser Reise für sich klären, auch das) –
Und, wie läuft’s so mit deiner Mutter?, fragte Ejtan. Geht so, antwortete sie. Was heißt »geht so«? Habt ihr es geschafft, euch schon zu streiten? Ja. Das heißt, nein. Sie gibt sich ja eigentlich große Mühe … ach, vergiss es, ich hab jetzt keinen Nerv, davon zu erzählen (das heißt, dachte sie, ich hab keinen Nerv, mich jetzt mitder Beziehung zu meiner Mutter zu befassen und wieder die Enttäuschung zu erleben, dass du einfach zu gesund bist und aus einer viel zu normalen Familie kommst, um so ein vertracktes Verhältnis zu verstehen).
Gib ihr noch eine Chance, sagte er, und die Stimme der Sportmoderatorin erklang im Hintergrund: »Amitai Spielman über noch einen Kampftag in Kirjat Shalom.«
Du hast Recht, sagte sie, ich werd’s versuchen. Wo bist du überhaupt?
Keine Ahnung, irgendwo im Ostteil, glaube ich.
Ich würde dich abholen kommen, wenn ich könnte.
Danke, Schatz. Ich glaube, ich nehme bald einfach ein Taxi.
Aber wenn der Fahrer eine Glatze mit tätowiertem Hakenkreuz drauf hat, dann steigst du nicht ein, okay?
Lili
Und dann – sie träumte gerade davon, dass sie mit Natan schlief, diesmal in einem prächtigen Schlafwagenabteil – hielt der Zug plötzlich an. Es hieß, sie sollten nicht aussteigen und die Vorhänge zuziehen. Zuerst erklärte ihnen keiner, was passiert war. Dann machten nacheinander verschiedene Gerüchte die Runde. Lili versuchte, sich die Ohren zuzuhalten. Es war doch nicht möglich, dass man sie nach der ganzen Hachschara und nach dem monatelangen Warten wieder zurückschickte. Sie fragte sich, ob die kluge junge Frau, die, wie sich herausstellte, Esther hieß, sich über die Aussicht freute, plötzlich doch zu ihren Eltern zurückfahren zu können, oder ob sie sich schon mit dem Abschied ausgesöhnt hatte. Sie wollte zu ihr gehen, doch man hatte sie gemahnt, auf keinen Fall zwischen den Wagen herumzulaufen.
Nachdem ihre Mutter gestorben war, hatte Lilis Vater ihr mitgeteilt, dass sie nun für eine Weile bei ihrer Großmutter auf demDorf leben würde. Sie hatte diese Vorstellung gehasst, doch war sie zu jung gewesen, um sich wehrhaft zu widersetzen, und so hatte sie sich traurig von allen Kindern in ihrer Klasse verabschiedet und jedem einen persönlichen Brief geschrieben. Ihren engen Freundinnen hatte sie auch einen langen, festen Kuss auf die Wange gedrückt, wie einen Stempel. Und dann erklärte ihr Vater ihr plötzlich, dass es mit Großmutter »doch nichts werde« und sie bei ihm bleibe. Ich dachte, du würdest dich freuen, fragte er sie, als er ihr zorniges Gesicht sah, und sie war noch zu klein, um ihm und sich selbst zu erklären, dass sie sich innerlich schon mit dem Abschied abgefunden hatte.
Die Eisenbahn stand weiterhin bedrückend still und rührte sich schon mehrere Stunden nicht vom Fleck. Lili zog die Traumdeutung aus dem Koffer und versuchte, darin zu lesen. »Wunscherfüllung« … »Traumentstellung« … ihre Augen sprangen von Wort zu Wort, ohne Brücken zu schlagen und sie miteinander zu verbinden. So steckte sie das Buch zurück in den Koffer, holte ihren Mantel heraus, drehte ihn zu einem Kissen, legte den Kopf darauf und versuchte zu schlafen. Hinter ihr rief jemand: Diese Idioten haben zu viele Leute in den Zug gelassen. Jemand anderer sagte in hysterischem Ton: Es gibt ein Problem mit den Schienen, sonst nichts, ich sage euch, bloß mit den Schienen. Schließlich kam der Leiter ihrer Gruppe in den Wagen und erklärte, es gebe ein ernsteres Problem. Die Briten hätten ihren Zug und ihr Ziel
Weitere Kostenlose Bücher