Neuland
Licht floss von den Straßenlaternen auf die Gesichter der Leute. Es waren nicht zu viele und auch nicht zu wenige unterwegs – genau richtig. Während sie lief, fand sie immer mehr Gefallen an dieser Stadt, ganz gegen ihren Willen. Ein nächtlicher Flohmarkt, zu dem auch drei kleine Läden gehörten, zog sie zu seinen verstaubten Möbeln. Der Verkäufer im dritten Laden war ein Israeli, der sie sofort als Israelin erkannte. Jossi, stellte er sich vor und drückte schlaff ihre Hand. Etwas an seinem weichen Kinn machte ihn ihr gleich sympathisch. Seit wann bist du hier?, fragte sie. Seit den achtziger Jahren. Als die Mauer noch stand? Ja, klar, ich bin nach dem Libanon gekommen, sagte er kurz, als erkläre das Wort Libanon schon alles. Und wie ist das Leben hier? Wunderbar , locker und erschwinglich, sagte er wie ein Radiosprecher, der das Codewort zur Generalmobilmachung durchgab. Womit kann ich dir helfen?
Sie ging durch den Laden, Jossi ihr hinterher, auf Abstand, er rückte ihr nicht auf die Pelle wie die Verkäufer in Israel. Sie sah eine Stehlampe, die Ejtan gefallen würde, ein bisschen angeschlagen, ein bisschen krumm, doch sie hörte die mahnende Stimme ihrer Großmutter »wir kaufen keine Waren aus Deutschland!«. Und selbst wenn sie die Sache damit beschönigen konnte, dass der Verkäufer Jossi hieß, wie ihr Vater, wie sollte sie diese Lampe nach Israel transportieren?
Danke, sagte sie, tolle Sachen hast du hier, aber ich habe kein Geld dabei, vielleicht ein andermal.
Kein Problem, meinte Jossi und reichte ihr eine Postkarte, die er hinter der Kasse hervorzog: »Israellink« stand dort auf Ivrith und Englisch geschrieben.
Das ist unsere Community , erklärte er. Wir treffen uns einmal im Monat, es kommen wahnsinnig viele Israelis. Dann singen wir zusammen, und alle drei Monate gibt es ein Treffen mit einem Schriftsteller. Aus Israel. Du bist eingeladen.
Ich bin … nur zu Besuch, erklärte sie.
»Vielleicht ein andermal«, ahmte er sie nach, und plötzlich meinte sie, einen leichten deutschen Akzent in seinem Ivrith zu hören.
Sie ging wieder hinaus auf die Straße. Ein Krankenwagen fuhr vorbei; seine Sirene klang erträglicher, nicht so hysterisch wie in Israel. Eine Treppe führte zur U-Bahn, und drei junge Mädchen gingen mit ihr hinunter. Sie kicherten. Inbar merkte, dass nicht viele Autos auf der Straße waren, und die, die an ihr vorüberfuhren, waren nicht gerade prunkvoll, und plötzlich verstand sie, was ihr an diesem verdammten Berlin gefiel, warum dieses verdammte Berlin besser war als London oder, sagen wir, Paris: Es war diese Bescheidenheit. Die Leute, die ihr entgegenkamen, waren weder prächtig noch protzig angezogen. Die Cafés möbliert mit Möbeln wie von dem Flohmarkt, den sie gerade gesehen hatte. Die Fahrräder sahen wie Kibbuz-Fahrräder aus. Sie holte ihr Tagebuch heraus und schrieb unter einer Straßenlampe: Jede große Stadt hat ein kurzes goldenes Zeitalter, in dem sie blüht, aber nicht zu sehr. In dem sie sprudelt, aber nicht überläuft, begehrt ist, aber nicht so sehr, dass nur noch die ganz Reichen dort wohnen können.
Was verstehst du überhaupt davon, meldete sich ihre innere Stimme, und sie versenkte das Tagebuch schnell tief in ihrer Tasche, da bist du grade mal einen halben Tag in Berlin und bildest dir ein, du könntest bereits deine Einsichten über die Stadt formulieren?
Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche und rief Ejtan an.
Er antwortete nach dem zweiten Klingeln.
Hi, meine Schöne, ich habe gerade an dich gedacht. – Gutes? Natürlich nur Gutes. Was zum Beispiel? Ach, lass mal. Warum lass mal? Es wird dir nicht gefallen. Hast du dir wieder mal vorgestellt, wie unser gemeinsamer Sohn aussehen würde? So ungefähr.Was heißt ungefähr? Diesmal war’s ein Mädchen. Lass locker, Ejtan, lass mal locker, ich hab dir gesagt, das muss von mir kommen. Siehst du, deshalb wollt ich dir nicht erzählen, was ich gedacht habe.
Drückendes Schweigen. Ein Schweigen, das zeigt, dass ein Gespräch in eine Sackgasse geraten ist und man jetzt den Rückwärtsgang einlegen muss. Vor ihrer Abfahrt hatten sie viele solche Schweigemomente gehabt. Nur dass sie diesmal hinter seinem schweigenden Atmen eine Stimme hörte. Eine weibliche Stimme plapperte bei ihnen in der Wohnung. Hast du jemanden zu Besuch?
Ja, antwortete er, keinen Anflug von Schuldgefühl in der Stimme, die Moderatorin der Sportnachrichten, tolle Frau.
Ah, sagte sie, in einer Mischung aus Erleichterung
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