Neuland
… ich denke … du hättest ja auch im Gang tanzen können, wie die anderen jungen …
Ja, aber was sollte dieses Nazi-Gekreische?
Inbari, man kann nicht allem dieses Wort »Nazi« anhängen. Wenn dir dasselbe in … sagen wir in Barcelona … passiert wäre, wäre es dann auch »Nazi« gewesen?
Aber wir sind nicht in Barcelona, Mama, wir sind hier inDeutschland! Vielleicht verdrängst du das lieber. Klar, dass es dir angenehmer ist, das zu verdrängen. Denn du sitzt hier auf deren Stipendien. Es ist genau so, wie Großmutter Lili sagt: Sie erkaufen unser Vergessen mit Geld.
So sieht es deine Großmutter. Es ist ihr Recht, so zu denken. Aber ich sehe das anders.
Aber Großmutter hat Recht – sagte Inbar und spürte, wie sich in ihrem Körper in großer Geschwindigkeit das angenehme elektrische Gefühl ausbreitete, das sie immer mit der Erwartung überkam, dass sie den anderen gleich an seinem wunden Punkt verletzen würde –, und auch in dem, was sie über Bruno gesagt hat, hat sie Recht.
Über Bruno? Was hat sie denn über Bruno gesagt?
»Brutto«, hat sie ihn genannt, und gesagt, so wie sie dich kenne, sei er bestimmt stinkereich.
Alles, was recht ist, ihr beide habt nicht über mich zu richten! Ich habe ein Recht, glücklich zu sein! Plötzlich wurde ihre Mutter laut.
Bei ihrer Mutter konnte das ganze gelehrte, akademische Reden von einem Moment zum nächsten in einen Schrei umschlagen. Ihre Stimme stieg dann plötzlich in kreischende Höhen, und Inbar hasste das, sie hasste die Gänsehaut, die sie dann immer bekam, hasste es, dass niemand in der Welt draußen wusste, dass ihre Mutter so cholerisch sein konnte, dort dachten nämlich alle, sie wäre eine sanfte und umgängliche Frau; einmal war Inbar mit einem Typ gegangen, der sie beim dritten Date plötzlich anschrie, sie fuhr gerade in ihrem weißen Fiat Punto und bremste bei blinkendem Grün an der Ampel, und er schrie: Was machst du da?! Und wieder bekam sie diese Gänsehaut, von den Fingerspitzen bis in die Haarwurzeln, und sie fuhr rechts ran und sagte zu ihm: Steig aus. Auf der Stelle. Sein ganzes Jammern half ihm nichts, und auch nicht seine breite Brust oder seine starken Arme.
Gut, Mama, sagte sie beherrscht und unterkühlt, mich hat man heut schon genug angeschrien. Ich glaub, ich laufe jetzt lieber noch ein bisschen alleine rum.
Aber du hast doch gar keine Ahnung, wo du bist, bettelte ihre Mutter.
Inbar schaute sich um. Ein paar eng beieinanderstehende Häuser. Neue neben alten Gebäuden. Und auch eine Ruine, die so aussah, als hätte sie erst gestern eine Granate der Alliierten abgekriegt. Ein Auto fuhr an ihnen vorüber, ein Glatzköpfiger lehnte sich aus dem Fenster und warf sein spöttisches Lachen heraus. Über sie? Über jemanden, der hinter ihnen stand?
Ich bin in Kreuzberg, oder? Gib mir Brunos Adresse, zur Not nehm ich mir ein Taxi zurück.
Ich werde mir Sorgen machen. Du kennst mich doch. Ich werde nicht einschlafen, bis du zu Hause bist. Komm, lass uns gemeinsam fahren, Inbari. Wär doch schade, unseren ersten Tag so zu beenden.
Ich schick dir eine SMS, wenn ich zurück bin, sagte Inbar. Traurigkeit verschlug ihr fast die Stimme. Ihre Mutter gab sich solche Mühe, warum konnte nicht auch sie sich ein bisschen bemühen? Sie beugte sich über ihre Mutter und gab ihr ein flüchtiges Küsschen auf die Wange und sagte: Jetzt haben wir unseren ersten gemeinsamen Tag anders beendet.
*
In ihrem Haus in Haifa trennte eine Klappe ihr »U-Boot« vom Wohnzimmer. In den Jahren, in denen sie sich viel herumtrieb, hatte sie mit ihrer Mutter die Abmachung, dass sie die Klappe aufmachte, bevor sie ins Second City oder ins Vertigo ging, und wenn sie gegen Morgen zurückkam den Sparren, der sie offen hielt, herauszog und die Klappe laut zufallen ließ, damit ihre Mutter hörte, dass sie heil heimgekehrt war. Als ihr Bruder sie im Keller ablöste, blieb diese Abmachung bestehen, und als er nicht von der Armee zurückkam, blieb die Klappe lange Monate offen, und keiner wagte es, den Sparren herauszuziehen.
Inbar zog durch die nächtlichen Straßen Berlins, und wie immer, wenn sie an ihren Bruder dachte – in Israel passierte ihr das fast nie, sie ließ diese Gedanken nicht zu –, verschwamm die Umgebung vor ihren Augen. Irgendwann später stieg sie aus der Unterwelt ihrer Sehnsucht auf, und da bemerkte sie, dass sie eigentlich durch ein sehr angenehmes Viertel ging.
Kleine Eckkneipen, die den halben Bürgersteig einnahmen. Biergelbes
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